Streiks gegen Sparprogramm in Belgien: "Die Leute sind bereit, sich zu wehren"
Pünktlich zum Beginn des EU-Gipfels legen Belgiens Gewerkschaften das ganze Land lahm. Die Wut auf das Sparprogramm der Regierung ist groß.
BRÜSSEL taz | Claude Rolin ist wütend. Auch auf seine, die belgische Regierung. Aber vor allem auf die deutsche Kanzlerin, die allen EU-Staaten vorschreiben wolle, was sie zu tun haben. "Ich würde Angela Merkel gerne sagen, wie sehr sie sich irrt mit ihren Sparmaßnahmen. Sie gefährdet damit ganz Europa. Für uns ist Deutschland garantiert kein Vorbild", so der Generalsekretär der christlichen Gewerkschaft CSC.
Gemeinsam mit zwei Dutzend weiteren Gewerkschaftern steht Rolin vor dem Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel und gibt ein Interview nach dem anderen - in Französisch, Flämisch, Englisch: "Wir wollen ein Zeichen setzen. Europa braucht Wachstum und Arbeitsplätze, statt immer nur zu sparen."
Noch bevor die EU-Staats- und -Regierungschefs gestern in Brüssel eintrafen, haben die belgischen Gewerkschaften klargemacht, was sie von der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftspolitik halten: Ganz Belgien streikte gegen die Sparmaßnahmen, mit denen die Regierung in Brüssel den EU-Vorgaben genügen will.
Davon bekamen die Staats- und Regierungschefs allerdings nicht direkt viel mit. Immerhin mussten einige von ihnen mit ihren Flugzeugen auf eine nahe der belgischen Hauptstadt gelegene Militärbasis ausweichen: der zivile Flughafen wurde bestreikt.
Minimalversorgung in Krankenhäusern
Der Generalstreik gelang belgienweit, weil alle Gewerkschaften zum ersten Mal seit 18 Jahren gemeinsam dazu aufgerufen hatten. Busse, Züge und Trambahnen fuhren nicht. Der zweite Flughafen Belgiens, Charleroi, war komplett geschlossen. In einigen Regionen blockierten die Gewerkschaften die Zugänge zu Industriegebieten. Einige große Supermärkte wurden nicht mit Waren beliefert. In Schulen fiel der Unterricht aus. In Gefängnissen und Krankenhäusern gab es in den meisten Fällen nur eine Minimalversorgung.
"Wir sehen, dass die Leute bereit sind, sich zu wehren. Wir wollen, dass die Politiker sich endlich wieder daran erinnern, dass sie den Sozialpartnern zuhören müssen", erklärt Olivier Valentin vom liberalen Gewerkschaftsbund CGSLB. In Belgien sind im EU-Vergleich besonders viele Bürger Mitglieder von Gewerkschaften: 52 Prozent waren es nach den Zahlen der OECD 2009. Und der Trend geht weiter nach oben.
In Frankreich sind gerade einmal 7 Prozent gewerkschaftlich organisiert. In den Niederlanden und in Deutschland sind es jeweils weniger als 20 Prozent. Auch deshalb gibt es in Belgien nach wie vor zeitlich unbegrenztes Arbeitslosengeld und die automatische Anpassung der Löhne an die Inflation.
Von politischer Seite gab es für den Generalstreik wenig Verständnis. Der belgische Premierminister Elio Di Rupo nannte die Arbeitsniederlegung "unverantwortlich". Der Vorsitzende der flämischen Sozialdemokraten, Bruno Tobback, verglich die Bewegung gar mit einer "Atombombe". Man dürfe notwendige Reformen nicht mit blinder Sparwut verwechseln.
Die belgische Regierung hatte vor einigen Wochen zahlreiche Maßnahmen beschlossen, um die Neuverschuldung des Landes - wie von der Europäischen Union gefordert - wieder unter die 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu bringen. Unter anderem soll das Alter für Frühpensionierungen bis 2018 von 50 auf 55 Jahre angehoben werden. Außerdem wurde die staatliche Förderung für Baumaßnahmen, die dem Klimaschutz zugutekommen, wie Wärmedämmung oder Solarzellen-Einbau, gestrichen.
Belgiens Gewerkschaften dagegen fordern mehr europäische Solidarität und die Einführung von gemeinsamen Schuldscheinen. "Nur so können wir die finanziellen Mittel eintreiben, die wir für den Weg aus der Krise brauchen", so der liberale Gewerkschaftler Olivier Valentin. Sonst gehe es Europa wie einem Schwerkranken beim Aderlass: "Man behandelt ihn ununterbrochen, aber geheilt ist er erst, wenn er tot ist."
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