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Streichung von Zwei-Euro StellenDäumchendrehen bis zur Rente

Ende Juni läuft in Hamburg das Beschäftigungsprogramm Ü 55 ersatzlos aus. Betroffen sind auch 23 Nachbarschaftshelfer im Problembezirk Kirchdorf-Süd.

Viel mehr als nur ein Aufpasser: Quartierspfleger Uwe Neuwirth. Bild: Hahn

HAMBURG taz | Als Frank Krohn vor über drei Jahren seine Stelle als Hausbetreuer in Kirchdorf-Süd antrat, begann für ihn ein neues Leben. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit fand der 57-Jährige wieder Halt und Anerkennung. Mit 40 Kollegen ist der gelernte Radio- und Fernsehtechniker in der Nachbarschaftshilfe tätig - die unter anderem darin besteht, dass die zehn Pförtnerlogen in den Hochhäusern in der 1976 fertiggestellten Trabantenstadt täglich besetzt sind.

"Wir sind hier Mädchen für alles", sagt Krohn mit einem Lächeln und zählt die Funktionen auf: "Wir sind für die Leute da, wir sind ihre Ansprechpartner, wir gehen mit ihnen zum Arzt, zur Behörde oder zum Einkaufen, wir nehmen Pakete an, wir sorgen für die Sauberkeit, wir passen auf die Haustiere auf, wir lassen die Kinder aufs Klo, wir organisieren Kinderfeste." In seine Aufzählung fügt er immer wieder ein: "Und das macht uns Spaß, großen Spaß."

Und genau deswegen will er für seine Stelle kämpfen, die zum 30. Juni ersatzlos gestrichen werden soll. Seine Zwei-Euro-Stelle gehört zu den sogenannten Ü 55-Stellen, die ganz wegfallen werden.

Während die Hamburg weite Streichung von Ein- und Zwei-Euro-Stellen überall tiefe Wunden schlägt, empfinden die über 55-jährigen Zwei-Euro-Jobber die Maßnahme als einen Fall in "ein tiefes schwarzes Loch", weil sie mit größter Sicherheit wissen, dass sie bis zur Rente weder Arbeit noch sonstige Qualifizierungsmaßnahmen mehr bekommen werden.

"Wir fühlen uns so, als ob wir weggeworfen werden", sagt Krohns Kollege Uwe Neuwirth, dessen Arbeitsvermittler ihm noch vor zwei Jahren die Hoffnung gemacht hatte, dass er diesen Job "bis zur Rente machen" könnte. Nun ringt der 60-Jährige immer wieder mit den Worten: "Dieses Gefühl, dieses Abgestempeltsein, dieses Fallengelassengefühl - ich weiß gar nicht, wie ich das ausdrücken soll."

Das Ü55-Programm

Das Ü55-Programm wurde 2007 eingeführt, um "neue Chancen für ältere Langzeitarbeitslose" zu schaffen.

Der Unterschied zu den Ein-Euro-Jobs lag in der ein Euro höheren Bezahlung und in der Beschäftigungsdauer von 24 Monaten mit guten Verlängerungsmöglichkeiten.

Zum 30. Juni läuft das Programm aus - dann werden die Bundesmittel gestrichen.

Wie viele Stellen betroffen sind, ist nicht bekannt. Insgesamt werden 10.000 Ein-und Zwei-Euro-Stellen auf 6.120 reduziert. DAH

Zusammen mit Krohn und seinen anderen Kollegen hat Neuwirth auf dem Marktplatz in Kirchdorf-Süd eine Unterschriften-Aktion organisiert, in der sich die Wilhelmsburger für den Erhalt der Hausbetreuer und Nachbarschaftshelfer starkmachen können. Warum sie den Erhalt fordert, formuliert eine ältere Dame auf dem Unterschriftenzettel so: "Damit wir weiterhin eine saubere und würdige Wohnstätte haben."

Auch Horst Kanthak, Bereichsleiter beim zuständigen Beschäftigungsträger Passage gGmbH, betont die soziale Funktion der Nachbarschaftshelfer. Wenn sie nicht wären, glaubt Kanthak, würde ein "Fundament zusammenbrechen", das für den sozialen Brennpunkt Kirchdorf-Süd mit seinen knapp 6.000 Einwohnern unverzichtbar ist.

Birgit Veyhle, Leiterin des ebenfalls von der Passage gGmbh betriebenen Lauren-Janssen-Hauses in Kirchdorf-Süd, will alles daran setzen, die "Güte zu halten" und das Projekt der Nachbarschaftshilfe weiterzuführen. Doch erst im Oktober wird sie Klarheit darüber haben, wie es weitergehen wird.

Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Saga / GWG, der die Hochhäuser gehören, sieht keine Möglichkeit, einzugreifen. Das Projekt der Hausbetreuer sei allein eine "Entscheidung der Politik", sagt Pressesprecherin Kerstin Matzen, die Saga / GWG stelle lediglich die "Räume zur Verfügung".

Frank Krohn und Uwe Neuwirth hoffen nun auf Unterstützung von allen Seiten - nicht zuletzt von der SPD, die sie mit ihren Unterschriften an die Wahlversprechen erinnern wollen.

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2 Kommentare

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  • AC
    anja c.

    last kirchdorf leben

  • HN
    HANS NIX

    "Das Projekt der Hausbetreuer sei allein eine "Entscheidung der Politik", sagt Pressesprecherin Kerstin Matzen, die Saga / GWG ..."

     

    Auf Deutsch: Der Staat muss der städtischen SAGA diese Leute finanzieren. Wer soll das glauben?

    Die könnten die beiden auch weiterbeschäftigen, es gibt genug Möglichkeiten.

     

    Aber das ist der 1-EURO-Job: Die Träger wollen Kohle vom Staat. Der Rest interessiert niemanden. Was aus den beiden wird? Gute Frage, nach der Theorie und den Gesetzen der ARGE hätten sie sich jetzt so qualifiziert, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt tatsächlich eine Arbeit finden könnten. In der Realität müssen sie jetzt um ihre 1-EURO-Jobs betteln.

     

    Der wirkliche Wert Ihrer Tätigkeit für den realen Arbeitsmarkt liegt im Statement der SAGA/GWG - schade. Wenn ein staatliches Unternehmen es nicht schafft, die Leute wirklich zu qualifizieren, sollte man von denen das Geld zurück fordern.