Straßentweets in Ecuador: Die Demokratie hacken
Die Bürgerinitiative #LoxaEsMás in Ecuador nimmt mit „Straßentweets“ Einfluss und macht virtuellen Protest sicht- und hörbar.
LOJA taz | Stadträtin Johanna Sarmiento ist in der Defensive. Die Wasserknappheit in der Stadt, die mangelhafte Müllbeseitigung, das marode Transportwesen, sie wälzt die Schuld für all die Missstände auf den Bürgermeister. Dass sich Politiker gegenseitig die Verantwortung zuschieben, ist nicht ungewöhnlich. Dass Bürger Politiker für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen, und das live im Radio, hat hingegen eher Seltenheitswert, zumindest in Lateinamerika. Ganz anders sieht das in Loja aus, der 130.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Süden Ecuadors.
„Wir haben es geschafft, bei den Bürgern das Bewusstsein für zivilgesellschaftliche Teilhabe zu wecken“, freut sich Carlos Correa Loyola, Gründer der Initiative #LoxaEsMás. Der Blogger hatte vor gut einem Jahr mit einem Blog-Post über die Zustände des öffentlichen Transportwesens den Stein ins Rollen gebracht. Er wollte ein Forum schaffen, in dem Probleme benannt werden, um die sich die Stadtverwaltung nicht kümmert, und in dem Bürger nach Lösungen suchen können.
Schnell wurde ihm dabei klar: Der Gemeinde könnte es besser gehen, Loja könnte „mehr sein“. So ist der Name der Bürgerinitiative entstanden, bei dem die alte Schreibweise der Stadt übernommen wurde: LoxaEsMás, Loja ist mehr.
Im Vergleich zu anderen Protestformen, deren Anliegen sich im Netz verbreiten, ist diese Twitter-Kampagne in Ecuador für weite Teile der Gesellschaft sichtbar, auch für die, die keinen Zugang zum Internet haben. Denn die Aktivisten haben ihre Kritik aus den sozialen Netzwerken auf die Straße gebracht. „Hackeando la democracia“ ist das erklärte Ziel, die Demokratie hacken. Das geeignete Werkzeug dafür fand Carlos Correa beim Durchforsten sozialer Netze – den Tweet für die reale Welt. Das heißt: Die Bewohner drücken ihren Unmut wie bei Twitter-Kurznachrichten in maximal 140 Zeichen aus und bringen diese an Plakatwänden an.
Mit dieser ersten Offline-Aktion verschafften sich die Aktivisten im vergangenen Jahr bei jenen Teilen der Gesellschaft Gehör, die selber offline sind. In einem Radiospot wurden die Lojaner zum Mitmachen aufgefordert: „Wie träumst du dir Loja in 140 Zeichen?“, lautete die Frage des Moderators. Die 45 beliebtesten Forderungen waren bald darauf auf Plakaten in der Stadt zu lesen.
Bürgerbeteiligung wird zu Bürgerkontrolle
So dauerte es nicht lange und das Gezwitscher drang bis ins Rathaus. Bürgermeister Jorge Arturo Bailón empfing zwar Vertreter der Initiative und nahm eine Liste der meistgewählten Wünsche entgegen. Auf einen Dialog wollte er sich aber nicht einlassen. Auf dieser Enttäuschung fußte die Idee, die Bürgerbeteiligung auf Bürgerkontrolle auszuweiten. „Herr Stadtrat, ich habe für Sie gewählt“ ist der Name des Podcasts, bei dem die Bewohner Lojas live im Radio hören können, wie nacheinander die elf Stadträte – zuletzt Johanna Sarmiento – mit den Erwartungen der Bürger an die Stadtverwaltung konfrontiert werden.
Ob Bürgermeister Bailón vor dieses Mikrofon treten wird, ist fraglich. Carlos Correa sagte gegenüber der taz, dass er sehr skeptisch sei.
Diesen Text lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. Juni 2013. Darin außerdem: Die Titelgeschichte „Die neuen Habenichtse“ über Internetunternehmer, die das Zeitalter des Haben-Wollens überwinden wollen. Die Affenforscherin Jane Goodall über die Ähnlichkeit von Menschen und Schimpansen. Und: Wie ein Islamist mit einem Telefonstreich den größten Terroralarm seit der RAF auslöste. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Doch lange wird die Stadtregierung die Forderungen von Carlos Correa und seinen Mitstreitern nicht mehr ignorieren können. Längst hat sich #LoxaEsMás als lokaler Akteur etabliert. Nach einem Erdrutsch organisierte die Initiative Aufräumarbeiten, bei den Wahlen zur Nationalversammlung stellte sie die Wahlprogramme der lokalen Kandidaten auf ihrer Website vor.
Online-Aktivisten können aus #LoxaEsMás lernen, dass es viel bringen kann, wenn sie aus ihrer virtuellen Blase herauskommen. Eine ähnliche Erfahrung hat letztes Jahr die mexikanische Studentenbewegung #yosoy132 bei der Präsidentschaftswahl gemacht. Nach der Mobilisierung der Medien im Wahlkampf reichte ihr Einfluss so weit, dass alle Kandidaten bis auf Enrique Peña Nieto, der die Wahl gewann, an einem von ihnen organisierten TV-Duell teilnahmen.
In Ecuador zieht das Modell aus Loja bereits Kreise: In der Hauptstadt Quito schlugen dem vermeintlich korrupten Bürgermeister Augusto Barrera unter dem Hashtag #ChaoBarrera so viele Rücktrittsforderungen entgegen, dass er die Schließung des gleichnamigen Twitter-Accounts anordnete – mit dem Ergebnis, dass er damit die Kritik an seiner Politik noch anfeuerte. In Loja kommt der Widerstand von den Lokalzeitungen, die die Partizipationsbemühungen der Bevölkerung ignorieren, und von Politikern wie der Stadträtin Johanna Sarmiento, die Bürgerengagement nur dann begrüßen, wenn sie nicht kritisiert werden.
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