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Stille Tage im Klischee

Hier soll Christiane F. gewohnt haben? – Sensationsgierige Getto-Touristen sind im Märkischen Viertel nicht gut aufgehoben. Auch zwischen den drastischen Betonwüsten versteckt sich doch nur der unspektakuläre Alltag einer mittelmäßigen Vorstadt

von NINA APIN

Seit ich in Berlin wohne, bin ich „Getto-Touristin“. Statt wie andere Großstädter am Wochenende Erholung im Grünen zu suchen, fahre ich eine beliebige U-Bahn-Linie bis zur Endstation und hoffe an Orten wie Rudow, Pankow oder Wittenau auf interessante Entdeckungen. Besonders haben es mir übel beleumundete Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus aus den Siebzigerjahren angetan. Ich schlendere durch die Betonwüsten und versuche, auch diesen Gegenden einen besonderen Reiz abzugewinnen. Einen Samstag verbrachte ich in der Gropiusstadt, aß auf einem Flohmarkt Waffeln, kaufte beinahe eine alte Atari-Konsole und überblickte vom Dach eines Hochhauses die Gegend, in der einst Christiane F. in die Heroinsucht getrieben wurde.

Auf den ersten Blick scheint das Märkische Viertel alle Kriterien für eine solche Reise zu erfüllen: Die in den Jahren 1964 bis 1974 erbaute Großsiedlung liegt abgelegen am nördlichen Stadtrand und gilt als Beispiel für seelenlose Reißbrettarchitektur. Über 40.000 Menschen leben in himmelwärts ragenden Betonklötzen, die sich gleichen wie ein Ei dem andern. Der Durchschnittsberliner durchfährt das „MV“ höchstens auf der Fahrt ins Grüne. Meine Freundin Kati, die im Märkischen Viertel ihre Jugend verbrachte, berichtet Vielversprechendes: von Jugendgangs, die Mädchen mit dem Messer Buchstaben in die Haut ritzen, von einer lebendigen Skater-Szene und wilden Metal-Partys im Jugendhaus „Baracke“.

Bereit, eine weitere hässliche Seite von Berlin kennnen zu lernen, steige ich an der Endhaltestelle der U 8 aus und nehme den Bus ins Märkische Viertel. Links und rechts erstrecken sich gleichförmige weiße Hochhauskomplexe. Da ist der berüchtigte „Lange Jammer“, eine endlos lange Wohnmaschine mit schießschartenähnlichen Fenstern, von deren glatter Fassade der Blick abprallt. Hässlich ist es hier allemal. An der Haltestelle „Märkisches Zentrum“ steige ich aus. Überall Luftballons, bunte Plakate verkünden die Festtage zur Wiedereröffnung des Märkischen Zentrums, die unter dem Motto „Voll gut. Voll da. Voll spar.“ mit großer Verlosung und Livemusik locken wollen.

Das Innere des Einkaufszentrums ist wenig spektakulär. Keine üblen Pinten, Spielstätten oder komischen Gestalten, nur das übliche Sortiment an Ladenketten: H & M, McDonald’s, Saturn, Tchibo und die unvermeidlichen italienischen Eisdielen. Auf der Bühne im Innenhof spielt die Big Band des MV eine schräge Version von „Fever“, an der kleinen Saturn-Bühne singen drei Mädchen in Plateau-Turnschuhen Karaoke zu Xavier Naidoo. Ihre Freundinnen kichern dazu. In der Gropiusstadt wäre die Bühne vermutlich längst zerlegt worden. Doch hier ist nicht die Gropiusstadt.

Hinter dem Märkischen Zentrum beginnt der Senftenberger Ring. Die Hochhäuser sind frisch saniert, zwischen den Anlagen ist reichlich Grün und sogar ein kleiner See. Ich sehe Männer, die Autos waschen, Pärchen, die den Hund spazieren führen, Kinder auf Fahrrädern und alte Menschen. Nur keine Jugendlichen. Überhaupt ist hier wenig los. Die Skateboard-Rampe ist kaputt, der Platz darum verwaist. Die wenigen Cafés sind so gut wie leer. Vor dem Fontane-Haus überrasche ich eine Gruppe Jugendlicher beim Taggen. Als sie mich sehen, verschwinden sie ins Jugendcafé, wo zwei junge Sozialarbeiter am Tresen auf Kundschaft warten.

Die „Baracke“, in der meine Freundin einst wilde Partys feierte, ist jetzt eine öffentliche Einrichtung und hat heute zu. Im Bürgerbüro erfahre ich, dass die „Baracke“ bald geschlossen wird. Aber da gebe es ja noch die Jugendkunstschule Atrium, das Jugendzentrum ComX und die vielen kleinen Einrichtungen der Kirchen. Dann fängt es an zu regnen und bald bin ich alleine auf der Straße.

Als ich am folgenden Abend mit zwei Freunden wieder den Wilhelmsruher Damm entlangfahre, sind zwar die Hochhäuser hell erleuchtet, doch jetzt, wo das Einkaufszentrum geschlossen hat, ist auf den Straßen gar nichts mehr los. Dabei ist es erst halb neun. Eine Kneipe zu finden, erweist sich als schwieriges Unterfangen. Nachdem wir lange in den menschenleeren Straßenschluchten umhergeirrt sind, entdecken wir endlich ein „Schultheiss“-Schild. „Na bitte“, sagt meine Freundin, „sogar hier gibt’s Eckkneipen, schließlich sind wir in Berlin.“ Doch in der „Märkischen Quelle“, wo Wagenräder neben ausgeblichenen Vereinsfotos an den Wänden hängen und leise Spielautomaten piepen, sind wir die einzigen Gäste. Nur ein stiller Trinker hockt am Tresen und starrt in die B. Z. Ist es immer so leer hier? „Früher war hier noch richtig was los,“, sagt die Bedienung müde, „aber jetzt: vergiss es. Die Leute haben alle kein Geld, die trinken lieber zu Hause.“ Dabei kostet ein großes Bier hier nur 2 Euro. Wir fragen, wo man sonst noch hingehen kann. Sie überlegt: „Also, der Trabant hat schon zu, die Hopfeninsel hat aber bestimmt noch eine Stunde auf.“ Es ist erst zehn!

Auch die Restaurants, an denen wir vorbeikommen, sind so gut wie leer. Sogar Bowling- und Billardkneipen, die es in jeder Kleinstadt haufenweise gibt, sucht man vergebens. „Hier gibt es noch nicht mal Graffiti“, sagt mein Freund ungläubig, als wir Richtung U-Bahn laufen, „und Videotheken hab ich auch erst eine gesehen. Über 40.000 Menschen können doch nicht alle vor dem Fernseher hocken!“

Da – ein Mann mit Hund! Wir beschließen, noch einen Versuch zu machen. „Entschuldigen Sie, wir suchen eine Kneipe in der Nähe.“ Die Antwort kommt in breitestem Berlinerisch. „Weeß ick ooch nich, ick bin aus Westdeutschland.“

Für meine Freunde ist das MV hiermit erledigt. Aber wenn sich das Leben hier schon drinnen abspielt, möchte ich wenigstens davon einen Eindruck bekommen. Ich vereinbare einen Termin zur Wohnungsbesichtigung. Die Gesobau sendet mir ein Angebot für eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung am Wilhelmsruher Damm zu. Die Gesobau ist nicht nur Wohnungsverwaltung, sondern auch so was wie die Mutter des Viertels, die Serviceeinrichtungen unterhält, eine Mieterzeitung herausgibt und Kaffeetassen mit „MV“-Logo verkauft.

Der Mietpreis ist nicht gerade günstig: gut 600 Euro für 83 Quadratmeter. Als ich zögerlich die muffigen Räume im 15. Stock inspiziere, versichert mir die freundliche Wohnungsverwalterin, dass die Wohnungen hier recht beliebt seien. Der Leerstand sei geringer als anderswo in Berlin, wer aus dem Märkischen Viertel komme, ziehe selten weg: „Die Leute mögen ihr MV. Das ist eine ganz gute Mischung hier, viele Beamte und Angestellte. Wir achten auch sehr auf eine gute Durchmischung der Wohnhäuser.“

Diese Wohnung hier wurde dennoch offensichtlich fluchtartig verlassen: In der Küche steht noch dreckiges Geschirr in der Spüle, im winzigen Kinderzimmer hängen Teletubby-Figuren und Reste von Klebebildchen an den Wänden. Die kleine Abstellnische quillt über von Müll. Auch ich spüre den Drang, zu fliehen. Bloß weg hier! Wer sich mit einer solchen Wohnung zufrieden gibt, der will nicht viel. Nicht viel Platz (zu eng), nicht viel Ruhe (zu hellhörig), nicht viel Komfort (zu schlicht). Nachdenklich gehe ich zum Bus. Warum findet man sich mit solchen Lebensumständen ab, statt zu rebellieren oder wegzuziehen?

Vielleicht kann es mir Hans Marquardt erklären, der Leiter der Abteilung Jugend und Familie im Bezirksamt Reinickendorf. Ich treffe ihn im ComX, einem großen, gut ausgestatteten Jugendzentrum, das von Computerkursen bis zur Töpferwerkstatt alles bietet. Auch Marquardt betont, dass hier alle möglichen Leute wohnen, nicht nur die unteren Einkommensschichten. „Es dürfte Sie erstaunen, aber das Durchschnittseinkommen hier liegt etwas über dem Berliner Durchschnitt.“ Also wohnen die Leute bewusst hier? „Es ist ja auch praktisch: Man ist schnell im Grünen und hier gibt es alles, was man braucht.“ Wenn man nur wohnen, fernsehen und schlafen will, ja.

Aber wie steht es mit Ausstellungen, Konzerten, Cafés, Kneipen? Da mischt sich der Leiter des ComX ein: „Am Wochenende fahren unsere Kids in die Stadt zur Disco, Kultur ist bei denen nicht so angesagt.“ Er zeigt mir den neu gestalteten Servicebereich, der Rechts- und Schuldnerberatung anbietet: „Das wird leider immer wichtiger hier.“

Jetzt wird auch das Bild klarer: Die Jugend flüchtet in den Konsum, die Älteren leben still vor sich hin. Das MV ist kein Getto für die Abgeschobenen, es ist eine Insel der Mittelmäßigkeit. Hier bleibt man nicht wohnen, weil man muss, sondern weil man sich arrangiert hat. Kids, die aus Langeweile konsumieren, Erwachsene, die zu Hause trinken, und drum herum hohe Häuser. Nein, das ist hier kein Ort, um Getto- oder irgendeine andere Art von Tourismus zu betreiben. Hier lebt man – oder man fährt nicht hin.

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