Stiftung fürs Lesen in Bogotá: Kolumbiens Herr der Bücher
José Alberto Gutiérrez ist von Beruf Müllmann. Seine Leidenschaft aber gilt den Büchern. In Bogotá fischt er sie aus dem Müll.
Fuerza de la Palabra, die Kraft des Wortes, heißt die kleine Stiftung, die der Mann mit dem buschigen Schnauzer und der hohen Stirn vor rund zehn Jahren gegründet hat. „Unser Ziel ist es, dort Bibliotheken aufzubauen, wo sie gebraucht werden, in den ärmeren Vierteln der Stadt. Wir liefern dafür die Bücher“, sagt er.
Gutiérrez ist von Beruf Müllmann. Die grüne Jacke mit dem Logo des städtischen Unternehmens Aguas de Bogotá hängt gleich neben der blauen Weste an der Garderobe. Die grüne Arbeitshose und das gleichfarbige T-Shirt des Unternehmens hat Gutiérrez schon an, denn es dämmert bereits und gegen 21 Uhr muss er sich auf den Weg zur Arbeit machen. „Ab 22 Uhr sitze ich am Steuer eines Lkw und fahre durch die Straßen, wo die Kollegen den Abfall einsammeln.“
30.000 Bücher zu Hause
Seit gut 25 Jahren ist das sein Job, und zu den Büchern ist er letztlich durch seine Mutter gekommen. Die lebt nur ein paar Straßen entfernt von dem kleinen zweistöckigen Haus in La Nueva Gloria, einem Stadtteil im Süden Bogotás, und hat ihrem Kind abends immer Gedichte oder Kurzgeschichten vorgelesen. „Das hat mir eine neue Welt eröffnet. Über die Bücher habe ich etwas von der Welt kennengelernt, habe Spaß am Lesen gefunden“, erinnert sich der Familienvater. Der hat seine Begeisterung für alles Gedruckte an seine drei Kinder weitergegeben und irgendwann dann auch an die Kinder und Jugendlichen aus dem umliegenden Straßen in La Nueva Gloria. Ein typisches Arbeiterviertel, wo die Eltern entweder alleinerziehend oder beide berufstätig sind. Für die Kinder bleibt kaum Zeit.
„Viele hängen vor dem Fernseher oder am Smartphone“, schildert Gutiérrez die Verhältnisse. Lesen bleibt folgerichtig auf der Strecke, und das in einem Land, das mit Gabriel García Márquez, Álvaro Mutis oder dem derzeit hochgelobten Juan Gabriel Vásquez Schriftsteller von internationalem Rang vorzuweisen hat. Das passt Gutiérrez ganz und gar nicht und so hat er im Erdgeschoss seines kleinen zweistöckigen Hauses in der Straße 47 A eine Bibliothek eingerichtet.
„Alles begann mit ‚Anna Karenina‘ von Leo Tolstoi. Das war mein erstes Buch, das ich vor etwa zwanzig Jahren aus dem Müll klaubte. Ich traute meinen Augen nicht, denn das Buch war unbeschädigt. Wer weiß, vielleicht sogar ungelesen – ein Frevel.“ Damals kaufte Gutiérrez seine Bücher noch auf dem Flohmarkt in der Einkaufsmeile „Séptima“ im Zentrum von Bogotá und wäre nie auf die Idee gekommen, ein Buch in den Müll zu werfen.
José Alberto Gutiérrez
Fortan schärfte er seinen Kollegen ein, alles gut erhaltene Gedruckte aus dem Müll der Hauptstadt zu fischen. Seitdem erklingt immer wieder der Ruf „Don José, libros“, wenn er am Lenkrad des Lkw mit der grün-weißen Lackierung von Aguas de Bogotá sitzt. Dann klettert er entweder aus der Fahrerkabine und inspiziert, was die Kollegen gefunden haben, oder sie reichen es ihm gleich. Ein Grund, weshalb sich im Erdgeschoss seines kleinen Hauses die Bücher nur so stapeln, der andere ist, dass Gutiérrez als „Señor de los Libros“, als Herr der Bücher, landesweit bekannt geworden ist und immer öfter Leute zu ihm kommen, um ihm Bücher zu überlassen. „Wir haben rund 30.000 Bücher hier unten, zum Teil einfach nur aufgestapelt, denn Platz ist knapp.“
Das soll sich bald wieder ändern. Hin und wieder fährt Gutiérrez mit einem von einem japanischen Autoproduzenten zur Verfügung gestellten Kleinbus in Kleinstädte und kleine Dörfer, um kommunale Bibliotheken aufzubauen oder deren Bestand zu ergänzen. „Das hilft im Kleinen. Doch das Problem ist strukturell. Zum einen wird zu wenig in die Bildung investiert, zum anderen trauen sich längst nicht alle in die Bibliotheken“, klagt Gutiérrez.
So gibt es in Bogotá zwar 19 öffentliche Bibliotheken, die wie die Virgilio Barco im Zentrum Bogotás zwar toll ausgestattet sind, sich aber weit entfernt von den ärmeren Stadtvierteln befinden. Zudem liegt die Virgilio Barco im Ausgeh- und Restaurantviertel Chapinero, wo fein gespeist wird. Was fehlt, so Gutiérrez, sind Bibliotheken in den ärmeren Stadtteilen. Idealerweise wären sie auch gleich ausgestattet mit pädagogischen Mitarbeitern, die mit Kindern und Jugendlichen lesen, Interessen wecken und sie motivieren.
400 Bibliotheken beliefert
Genau so hat die Familie Gutiérrez angefangen. Die jüngste Tochter, eine angehende Ingenieurin, hat den Kindern aus dem Stadtviertel an der derzeit hinter Bücherstapeln verborgenen Tafel Nachhilfe gegeben, während Gutiérrez selbst anderen Kindern im Nachbarraum vorlas. Es gab auch Zeiten, in denen Freiwillige, zum Teil sogar aus dem Ausland, für die Familienstiftung arbeiteten. Das soll zukünftig wieder so sein, denn Gutiérrez träumt davon, in der Nachbarschaft ein Kulturzentrum zu errichten, wo Bücher und Lesen im Mittelpunkt stehen. „Mit einer Werkstatt, wo Bücher repariert werden, mit einer Bibliothek mit Räumen zum Vorlesen und Platz für kleine Konferenzen und Seminare.“ Sein Konzept will er dieses Jahr in Wien auf einer internationalen Konferenz der Bibliothekare vorstellen und um Mittel bitten, denn bisher hat Kolumbiens „Herr der Bücher“ keinerlei öffentliche Unterstützung erhalten.
„Die Politik drückt sich darum, sich mit Projekten von unten auseinanderzusetzen. Es gibt nur wenige Politiker in Kolumbien, die einen sozialpolitischen Ansatz verfolgen“, ärgert sich der Mann, der erst im Sommer letzten Jahr sein Abitur nachgeholt hat. Mehr als zwei Klassen an der Grundschule hatte Gutiérrez als Kind nicht absolviert. Früh musste er zum Familieneinkommen beitragen. Alltag in Kolumbien.
Ungewöhnlich ist jedoch das langjährige Engagement des Bücherfans. Der beliefert die durch seine Initiative entstandenen Stadtteilbibliotheken mit dem Kleinbus. Rund 400 kommunalen Bibliotheken und Kulturzentren hat er bisher Bücher vermacht. „Selbst in der Region von Aracataca, wo Gabriel García Márquez geboren wurde, waren wir, weil es auch dort keine Bücher für den Nachwuchs gab“, erklärt Gutiérrez. Das ist über achthundert Kilometer von Bogotá entfernt.
Dann klingelt das Telefon, und Gutiérrez geht kurz vor die Haustür, um in Ruhe zu sprechen. Wenig später tritt er mit einem breiten Grinsen wieder in die überfüllte Bibliothek. „Wir haben eine kleine Spende für Benzin erhalten. Nun können wir mit dem Bus die längst geplante Tour nach Cañón del Combeima bei Ibagué machen“ freut er sich.
Der kleine Ort liegt rund 250 Kilometer südlich von Bogotá, und auf dem Weg will der „Señor de los Libros“ noch ein paar andere Dörfer ansteuern, um auch dort Bücher aus seiner rollenden Bibliothek zu verteilen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“