Steuerschätzung: Was sind schon 300 Milliarden Euro?
Weniger Ausgaben, höhere Steuern, neue Schulden - um den Fehlbetrag von über 300 Milliarden Euro auszugleichen, kann man zu allen drei Maßnahmen greifen - theoretisch.
100 Milliarden sparen
100 Milliarden Euro bei den öffentlichen Leistungen zu kürzen ist ein halsbrecherischer Gedanke. Aber theoretisch ginge es. Zum Beispiel mit Nullrunden im öffentlichen Dienst. Fast 200 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Kommunen jährlich für ihre Personalkosten aus. Würde man vier Jahre lang Nullrunden fahren und damit rechnerisch 2,5 Prozent an Lohnerhöhungen pro Jahr vermeiden, so wäre das schon mal eine Entlastung von 20 Milliarden. Das Problem: Müllmänner und LehrerInnen träten in den Dauerprotest.
Der Bund könnte sich auch einen Batzen Geld bei den RuheständlerInnen holen und den Bundeszuschuss zur Rentenkasse verkleinern. Müsste nur jeder der 20 Millionen RentnerInnen einen Abschlag-Soli von 9 Euro pro Monat hinnehmen, so wären das 8 Milliarden Euro in vier Jahren - aber Rentenkürzungen gibt es ja nicht.
Mal angenommen, irgendein Finanzpolitiker kramt Vorschläge heraus, wie man etwa bei Hartz-IV-Empfängern Geld sparen könnte. Vielleicht stößt jemand wieder auf die Idee des "Unterhaltsrückgriffs", mit der sich in den Neunzigern einige Unionspolitiker unbeliebt machten. Danach müssten künftig alte Eltern für ihre erwachsenen Kinder und umgekehrt einstehen, bevor einer von ihnen Arbeitslosengeld II beantragen könnte. Sparte man nur 10 Prozent der Kosten für Hartz IV, wären das in vier Jahren gut 8 Milliarden Euro.
Nicht so auffällig, aber folgenreich wäre es, einfach nicht mehr zu investieren. Würde man etwa auf ein Fünftel der öffentlichen Baumaßnahmen verzichten, käme man auf Einsparungen von 20 Milliarden Euro in vier Jahren. Nur wie die Konjunktur dann anspringen soll, bliebe ein ungelöstes Problem. VON BARBARA DRIBBUSCH
100 Milliarden Schulden
Jährlich 100 Milliarden neue Schulden für Bund, Länder und Kommunen, das würde die Verschuldung der öffentlichen Haushalte auf neue Rekordhöhen treiben. Insgesamt 1.502 Milliarden Euro betrug die Staatsverschuldung nach den letzten Zahlen im Jahr 2007. Umgelegt auf die Bevölkerung von jedem Baby bis zu jedem Greis entspricht das einer Pro-Kopf-Verschuldung von 18.880 Euro. Jede weitere 100 Milliarden Euro Staatsschulden erhöhen die Miesen pro Kopf um 1.259 Euro.
Die Summe entspricht gut 4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukt von 2,4 Billionen Euro. Unter normalen Bedingungen wäre damit die Grenze der jährlichen Neuverschuldung des Maastricht-Vertrages von 3 Prozent überschritten. Aber selbst der sieht vor, dass die willkürlich gewählte 3-Prozent-Grenze für die Neuverschuldung bei einem konjunkturellen Einbruch bedeutungslos ist.
Niemand muss in Deutschland auch fürchten, dass eines Tages deshalb der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Denn der Staat ist nicht irgendjemand, sondern ein ganz besonderer Schuldner. Er kann sich komfortable Rückzahlungsfristen über mehrere Generationen leisten, weil er als ewiger Schuldner gilt. Ein Beweis für die viel beschworene Abzocke zukünftiger Generationen ist das aber nicht: Jeder staatlichen Verschuldung steht bereits in der Gegenwart immer eine Forderung gegenüber.
Die Bundesbank beziffert das gesamte Geld- und Sachvermögen der Deutschen auf über 10.000 Milliarden Euro. Staatsanleihen kaufen aber meist nur Leute, die über das nötige Kleingeld verfügen. Höhere Staatsschulden vergrößern deshalb eher die Unterschiede in der Einkommensverteilung innerhalb der Gesellschaft als zwischen den Generationen. VON TARIK AHMIA
100 Milliarden mit Steuern
Durch Steuererhöhungen 100 Milliarden Euro in fünf Jahren zu beschaffen, wäre nicht schwer - bestünde der politische Wille. Wie Stefan Bach, der Steuerexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), erklärt, hat Deutschland im internationalen Vergleich einen Rückstand bei den Steuern auf Vermögen. Die Länder der Europäischen Union (EU 15) nehmen durchschnittlich 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung als Vermögensteuern ein. In Deutschland beträgt der Anteil nur 0,86 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Rückstand beträgt also gut 1 Prozentpunkt - rund 24 Milliarden Euro pro Jahr.
Als mögliche Steuern in Betracht kommen die Vermögensteuer, die es hier nicht mehr gibt, die Grundsteuer auf Immobilien, die die Kommunen erheben, die Erbschaftsteuer, die den Ländern zusteht, und neue Modelle, wie etwa die Börsenumsatzsteuer, die Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) ins Gespräch gebracht hat.
Nach Berechnungen des DIW könnte eine neue Steuer auf Vermögen bis zu 14 Milliarden Euro pro Jahr erbringen. Die Freigrenze läge bei 500.000 Euro Vermögen pro Familie, darüber würde 1 Prozent Steuer an das Finanzamt zu zahlen sein. Auch eine höhere Grundsteuer würde Wohlhabende nicht allzu hart treffen. Heute werden für Eigentumswohnungen in den zentralen Lagen großer Städte oft nur wenige hundert Euro pro Jahr fällig. Auch damit ließe sich 1 Milliarde erwirtschaften. Hinzu käme die Erbschaftsteuer, die heute infolge eines Kompromisses der großen Koalition bei rund 4 Milliarden Euro jährlich fixiert ist. Niedrigere Freigrenzen und höhere Sätze für selbstgenutzte Immobilien könnten 3 Milliarden Euro erwirtschaften. Mit einer neuen Börsenumsatzsteuer wäre das Paket komplett. VON HANNES KOCH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren