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Sterbende Dörfer und KlimawandelTräumen ist Arbeit

Die Spaltung von Stadt und Land, der Kapitalismus, und die Proteste der Gilets jaunes sind die Themen unsere Zeit. Sie alle hängen zusammen.

Klima- und Strukturwandel hängen zusammen Foto: Max Kukurudziak/Unsplash

I ch sah den Turm der Kathedrale beim Abstieg durch die bewaldeten Hügel rings um Pra­delles, eine braune Spitze, die aus dem Nest brauner Steine herausragte, eines der schönsten Dörfer des Landes, wie es offiziell heißt, ein Cevennendorf mit viel Vergangenheit, aber wenig Zukunft, wie sich herausstellte.

Was braucht es, dachte ich, als ich auf das Dorf zulief, um so eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, solche eine Kirche zu bauen, über viele Jahrzehnte hinweg? Was braucht es, um eine gemeinsame Geschichte zu schaffen, die so lange hält, die den Einzelnen übersteigt und die Gemeinschaft, das Städtchen, das Dorf trägt? Heute hängt an jedem zweiten oder dritten Haus ein Schild aus schmutzigem Papier, À Vendre, zu verkaufen.

Pradelles stirbt, es stirbt langsam und vor aller Augen, es stirbt an einer Zeit, die sich radikal verändert hat, keine Krankenversorgung, kein Zug oder Bus, kaum Läden, die Schule wird wohl bald schließen, weil es nicht genug Kinder gibt; es ist der Teufelskreis von Dörfern in ganz Frankreich, in ganz Europa, ein politisches Problem, wie nicht nur die Proteste der Gilets jaunes gezeigt haben, weil die Legitimation des demokratischen Systems infrage steht, wenn es einfach nicht mehr funktioniert für die Menschen.

Die Spaltung von Stadt und Land ist mehr und mehr eine politische Herausforderung für viele westliche Staaten, und das hat damit zu tun, dass die Voraussetzungen fehlen, die ein Leben auf dem Land möglich machen. Es hat aber auch damit zu tun, dass überhaupt die Vorstellung fehlt, was ein anderes, ein neues, ein inklusives, transformatorisches, alternatives Leben auf dem Land sein könnte.

Die Dringlichkeit des Augenblicks

Ein Dorf wie Pradelles stirbt, anders gesagt, auch deshalb, weil den Menschen hier eine Idee fehlt, so etwas wie ein Traum, wie aus dem Vorhandenen etwas Neues entstehen könnte. Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der hier vor 140 Jahren vorbeikam und dessen Pfad ich für eine gute Woche folgte, beschreibt das Pra­delles seiner Zeit als eingebettet in eine „feine, belebte, atmende, rustikale Landschaft“; heute sieht man niemanden, nicht auf den Feldern, aber auch kaum in dem Dorf, das sich wie in sich selbst zurückgezogen hat, wie in Trauer.

Es ist die Abwesenheit eines Traums, glaube ich, die mit zu dieser Traurigkeit beiträgt; und der Mann, der mir im Dorf mit einem Packen Zettel entgegenkam, schien den gleichen Gedanken zu haben. Eine Freundin von ihm, sagte er, sei vor einer Weile wieder hierhergezogen, das Dorf, aus dem sie stammt, und sie habe kaum glauben können, wie leer, schwach und ohne Energie es sei – deshalb wollten sie einen Workshop veranstalten, an dem die Einwohner von Pradelles gemeinsam träumen sollen und die Gesellschaft dieses kleinen Dorfes neu erschaffen.

Ich musste bei dem Wort Traum an einen Artikel des britischen Politikers Ed Miliband im Guardian denken, in dem er beschrieb, warum bei der Klimakatastrophe Albtraumszenarien nicht weiterhelfen und es notwendig ist, „Träume zu malen“. Er greift dabei den Green New Deal auf, den die junge amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bekannt gemacht hat – eine umfassende Umwandlung der Gesellschaft, die ökologische und sozialen Herausforderungen gemeinsam angeht, Artensterben und Ungerechtigkeit, Extremwetter und extremer Reichtum, eine staatliche Großanstrengung, vergleichbar mit einer Mobilisierung im Kriegsfall, aber das ist auch die Dringlichkeit dieses Augenblicks.

Wir müssen den Menschen die Wahrheit sagen, was auf sie zukommt, schreibt Miliband, aber wir müssen auch die Geschichte erzählen, wie wir eine „gerechte, wohlhabende, demokratische Gesellschaft“ schaffen. Die Klimakrise eröffne die Möglichkeit, vielen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen – „aber wenn wir weiter nur Verzicht ohne Hoffnung anbieten“, dann „werden wir nicht erfolgreich sein“.

Ich glaube, Miliband hat recht, und ich glaube auch, dass beides zusammengehört, der Traum von Pradelles und der Traum einer anderen Welt angesichts der kommenden Klimakatastrophe. Die Gründe für beides sind ja ähnlich, eine kapitalistische Praxis, die wesentliche Strukturen und Lebenszusammenhänge auf dem Land umgestürzt hat und im Grunde des Leben abgesaugt hat, ohne, wie man heute sagt, die Externalitäten mitzubedenken, die Folgen also für den Einzelnen und die Gesellschaft – eine kapitalistische Praxis, die auch dafür verantwortlich ist, dass der Planet vor unseren Augen und durch unser Zutun zugrunde gerichtet wird. Die Lösung, eine Lösung wenigstens, so die Vermutung, könnte also darin bestehen, all das zusammenzudenken, das Lokale und den Kapitalismus beziehungsweise die Demokratie und das Lokale und das Klima.

Was braucht es, um eine gemeinsame Geschichte zu schaffen, die lange hält, die den Einzelnen übersteigt?

Was also ist das spezielle Versprechen von einem Ort wie Pradelles? Es ist das eines anderen Lebens in einem anderen Rhythmus, mit mehr Genauigkeit und Genuss, mehr Nachhaltigkeit und mehr Natur – nach vorne gedacht, für eine Epoche, in der die Arbeit möglicherweise durch Machine Learning und Automatisierung immer weniger wird und die Frage nicht nur der freien Zeit, sondern ganz direkt des Sinns und Wesens des Menschen immer dringender. Für so eine Epoche braucht es Orte des gemeinsamen Lebens und Lernens, der Bildung, der Kulinarik, des hoffnungsvollen und dabei hedonistischen Verzichts.

Geht das? Ich sage nicht, dass Pradelles in eine Klima-Hippie-Slow-Food-Kommune verwandelt werden sollte (obwohl …) Ich sage nur, dass die existenziellen Fragen unserer Zeit zusammenhängen. Es scheint gerade schwierig zu sein, gegen den bequemen Pessimismus anzugehen oder sogar gegen einen tragischen Fatalismus. Wenn sich aber Demokratie und Markt über das Lokale neu definieren, dann ist eine andere Zukunft möglich.

Zum Treffen in Pradelles kamen dann leider erst mal nur zwei Leute; Träumen ist Arbeit.

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6 Kommentare

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  • Liggers & Däh&Zisch - Mailtütenfrisch

    taz.de/Sterbende-D...mawandel/!5607077/ "Träumen ist Arbeit."







    "Psychopathen bauen Luftschlösser, Neurotiker bewohnen sie, und die Psychiater kassieren die Miete. " (Dany Kay)“



    &



    Ist Nachfrage & Angebot im Lot.



    Wird‘s liberal optimal - gelobt.



    (Bruno-Paul de Roeck)

  • Eine erschreckende Romantisierung, die ich hier lese. Was soll denn das Träumen helfen wenn selbst der Autor keine Ideen hat? Und auch wenn man viel Geld in die Hand nehmen und solchen Orten neues Leben einhauchen würde, selbst man wieder dort leben und arbeiten könnte, wer will denn dort leben? Im Winter? Ein wichtiger Teil des Problems sind eben auch die gewachsenen Konsum- und Teilhabe- Ansprüche und die Gelbwesten sind eher Ausdruck solcher enttäuschten Wünsche und damit eher auch das Gegenteil konstruktiver Träume vom Landleben.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Ein paar Bemerkungen:



    Erstens, der Autor tat gut daran seine Ferien gerade in dieser Gegend zu verbringen. Je vous félicite! Mehr sei dazu nicht gesagt, man muss ja nicht unbedingt noch mehr Teutonen auf die Idee bringen ;)



    Zweitens, in Frankreich sind zu allen Zeiten Dörfer und kleine Städte aufgegeben worden, und zwar gar nicht so wenige. Die Gründe: vielfältig, natürlich aber fast immer: ein Wegbrechen der Lebens- bzw. Einkommensgrundlagen. Nur ein einziges Beispiel sei hier vorgestellt: Chaudin (Hautes-Alpes), aufgegeben im Jahr 1895



    fr.wikipedia.org/w...dun_(Hautes-Alpes)



    www.youtube.com/watch?v=lqEQ8VTwq_Y



    Drittens, mit vollkommen sinnleeren aber irgendwie interessant klingenden Formulierungen, wie etwa



    "Ich musste bei dem Wort Traum an einen Artikel des britischen Politikers Ed Miliband im Guardian denken, in dem er beschrieb, warum bei der Klimakatastrophe Albtraumszenarien nicht weiterhelfen und es notwendig ist, „Träume zu malen“."



    werden wir der bitteren Realität schon heute unbewohnbarer Gegenden, vor denen andernorts die Leute in immer größerer Zahl verzweifelt davon laufen, nicht gerecht.



    Klar, wenn man auf Robert Lewis Stevensons Pfad eine kleine Pause macht, den Rucksack absetzt und sich an einer kühlen Quelle (vielleicht hat er hier ja auch schon getrunken!) labt, können einem schon mal aus Versehen solche Sätze reinrutschen.



    Aber als denkender und mit Informationen aus allen möglichen Winkeln der Erde mehr als gut versorgter Mensch, sollte man besser Worthülsen, wie



    "Die Lösung, eine Lösung wenigstens, so die Vermutung, könnte also darin bestehen, all das zusammenzudenken, das Lokale und den Kapitalismus beziehungsweise die Demokratie und das Lokale und das Klima."



    meiden.



    Sie vernebeln das eigene Denken in einer Zeit extrem wichtiger, wahrscheinlich schicksalhafter Entwicklungen und Enscheidungen, in denen wir alles was wir an Denkfähigkeit haben, dringend anderweitig brauchen.

    • @61321 (Profil gelöscht):

      Nur weil Sie den Sinn in manchen Formulierungen für sich nicht entdecken können, sind sie nicht sinnentleert. Wer sich keine Utopien ausdenken kann, sondern in Schockstarre verfällt, wird Probleme nicht lösen. Zu träumen kann helfen.

  • Die Ideen und anderen Geschichten gibt es, man muss sie nur oft lange suchen, denn in den Medien kommen sie selten vor (versteckt im Podcast) und im Nachtprogramm. Spontan fätt mir das hier ein: blogs.taz.de/disse...morgen-geschichte/ oder der Film Tomorrow, der vor kurzem im Fernsehen lief (www.tomorrow-derfilm.de/).

    An der Umsetzung hapert es hierzulande noch, weil der Druck, selber was zu verändern einfach nicht groß genug ist. um die Mühe und den langen Atem aufzubringen. Aber es gibt die Dörfer, die wiederbelebt werden.

    Wär schön, wenn die taz an den Themen dran bleiben würde, eine neue Rubrik für positive Perspektiven.

  • "Ich sage nur, dass die existenziellen Fragen unserer Zeit zusammenhängen."



    Ganz richtig, meist ist die Ursache, auch das ist gut dargelegt, der Kapitalismus.

    "[...] ohne, wie man heute sagt, die Externalitäten mitzubedenken, die Folgen also für den Einzelnen und die Gesellschaft – eine kapitalistische Praxis, die auch dafür verantwortlich ist, dass der Planet vor unseren Augen und durch unser Zutun zugrunde gerichtet wird."



    Wieder richtig, etwas dass erfordert den größten Nutzen für alle zu schaffen, leistet Kapitalismus nicht, obgleich in der Theorie ja der Nutzen angeblich über Allem steht. Aber eben der Nutzen, der dem Typen der gerade am meiste Kohle/ die stärksten Waffen/ die lauteste Stimme hat, nutzt. Ein zielführedendes Handeln ist das nicht. Sich in Gesellschaften zusammenschließen, bringt für das Inviduum weniger Vorteile als es sollte, dadurch kann es leicht zu einem Zwangempfdinen kommen- letztlich ist es auch mindestens Nötigung...

    "Wenn sich aber Demokratie und Markt über das Lokale neu definieren, dann ist eine andere Zukunft möglich."



    Durchaus ein Verusch wert. Allerdings ist der Planet nunmal schon kurz vorm Exitus, den wird man mit etwas Diszplin und glück noch ein paar Jahrzehnte aufschieben können, währendessen wird es aber zu extremen Flüchtlingswellen kommen, verursacht durch die extremen Wetterverhältnisse. Da spätestens kollabiert auch jedes poloitisches System. Und bisher war die Reaktion der Plitik bie Krisen immer eher- wieder zurück zu altbewährten, also dem was diese Lage erst verursacht hat. Im Fachjargon spricht man von Konservativen...