Sophia Zessnik Great Depression
: Ein Therapieplatz darf kein Privileg mehr sein

Foto: Fo­to:­ Katrin Dussan

Als ich neulich um 8.15 Uhr bei meinem Therapeuten vor der Tür stand und mir dessen Frau sagte, ich hätte mich im Datum geirrt, fühlte sich das kurz an wie damals in der Schule, wenn unverhofft die erste Stunde ausfiel. Ein grenzenloses Gefühl der Freiheit.

Abgelöst wurde es aber sogleich vom schlechten Gewissen: Darf ich mich darüber freuen, dass etwas ausfällt, was anderen verwehrt bleibt? Stellte ich früher den Nutzen infrage, zur Schule gehen zu müssen, wurde sogleich an mein Gewissen appelliert: „Kinder anderswo wären froh, wenn sie zur Schule gehen könnten.“ War mir damals die Dimension des Privilegs Schule noch nicht bewusst, ist es mir die des Therapieplatzes heute durchaus.

Denn bei Weitem nicht je­de*r, der*­die einen Therapieplatz benötigt, bekommt auch einen. Jedenfalls nicht sofort. Wartezeiten können inzwischen bei sechs Monaten oder mehr liegen. Für Menschen in psychischer Notlage ein Albtraum. Man stelle sich vor, mit gebrochenen Knochen oder einer Entzündung monatelang auf eine Behandlung warten zu müssen. Warum wird der psychischen Gesundheit also nicht derselbe Stellenwert eingeräumt?

Zwar erhält das Thema mittlerweile mehr Aufmerksamkeit, verbessert hat sich die Behandlungslage aber nicht. 2012 berichtete Spiegel von Wartezeiten bis zu 80 Tagen, heute sind wir schon bei über einem halben Jahr. Dabei wächst der Bedarf stetig: Seit der Pandemie stieg die Zahl der Anfragen für eine psychotherapeutische Behandlung um rund 40 Prozent.

Das Problem sei nicht der Mangel an Therapeut*innen, betonte der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, unlängst im „ZDF Magazin Royal“. Doch nicht ausreichend viele von ihnen seien im kassenärztlichen System zugelassen. Denn damit die Kosten für eine Therapie von der Krankenkasse übernommen werden, braucht es einen sogenannten Kassensitz, und die sind rares Gut. Die Schwester eines Freundes zahlte satte 80.000 Euro für einen solchen. Viele junge The­ra­peu­t*in­nen müssen sich hierfür erst mal verschulden, wenn denn überhaupt einer frei wird.

Die Fünftage­vorschau

Do., 24. 2. Hengameh Yaghoobifarah Habibitus

Fr., 25. 2. Volkan Ağar Postprolet

Mo., 28. 2. Anna Dushime Bei aller Liebe

Di., 1. 3. Saskia Hödl Kinderspiel

Mi., 2. 3. Lin Hierse Poetical Correctness

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Wie viele Sitze es geben darf, besagt die sogenannte Bedarfsplanung. Vor über 20 Jahren festgelegt, orientierte sie sich nach der Ein­woh­ne­r*in­nen­zahl einer bestimmten Region, nicht aber nach der in ihr lebenden Anzahl erkrankter Menschen. „Die Bedarfsplanung plant am Bedarf vorbei“, schreibt Krautreporter und bringt das Problem auf den Punkt. Zwar gab es mittlerweile kleinere Reformen, aus denen heraus neue Kassensitze entstanden sind, der tatsächliche Bedarf konnte aber eben bislang nicht gedeckt werden.

Um meine Frage vom Anfang zu beantworten; natürlich sollte ich mich freuen dürfen, wenn sich unverhofft mal eine freie Stunde auftut, und sei es durch eine ausgefallene Therapiestunde. „Genießen“ kann ich das aber erst, wenn ein Therapieplatz kein Privileg mehr ist.