Steigende Armut in Berlin: Immer weniger für immer mehr
Berlin hat die zweithöchste Armutsquote der Republik, die Inflation dürfte die Lage verschlimmern. Senats-Maßnahmen konnten den Trend nicht umkehren.
In der öffentlichen Debatte ist Armut oft nur in der abstrakten Form der statistischen Erhebung sichtbar. Aber schon aus den Zahlen wird klar: Die Armut steigt.
Gerade musste der Paritätische Gesamtverband seinen Armutsbericht nach oben korrigieren. Laut einer früheren Version vom Juni 2022 waren 2021 19,6 Prozent der Berliner:innen von Armut betroffen. Nun liegen die finalen Zahlen des Statistischen Bundesamts vor, auf denen der Armutsbericht basiert. Demnach sind sogar 20,1 Prozent der Berliner:innen arm. Das ist der zweithöchste Wert deutschlandweit. Nur in Bremen gibt es noch mehr arme Menschen als in Berlin.
Bundesweit sind 16,9 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Der Bericht zeigt, dass in dieser Gesellschaft gerade die Schwächsten häufiger arm sind. So sind Kinder bundesweit mit 21,3 Prozent überdurchschnittlich betroffen, die Altersarmut ist ebenfalls zwischen 2020 auf 2021 von 16,3 auf 17,6 Prozent stark gestiegen.
Auch patriarchale Strukturen zeigt die Statistik: Frauen sind mit 17,8 Prozent zu 1,8 Prozent häufiger von Armut betroffen als Männer. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Laut Statistischem Bundesamt waren das für allein lebende Personen 2021 monatlich 1.251 Euro.
Ein Armutszeugnis
„In unseren schlechtesten Träumen hätten wir nicht daran gedacht, dass es nun noch einmal nach oben geht“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Noch nie sei ein höherer Wert an Armut gemessen worden. Der Politik stellt er ein „bitteres Armutszeugnis“ aus. Konzepte, die Armut entschieden zu bekämpfen, lägen vor: die Anhebung der Regelsätze für Hartz IV und der Altersgrundsicherung auf 725 Euro, die Anhebung von Bafög und die Einführung der Kindergrundsicherung. Nur umgesetzt würden sie nicht.
Dabei dürfte die Realität inzwischen noch schlimmer sein, als der Bericht darstellt. Spätestens seit Russlands Krieg in der Ukraine grassiert die Inflation. „Wir merken, dass die Armut immer weiter zunimmt“, sagte Ulrike Kostka, Vorstandsvorsitzende der Caritas, zur taz. Gegen die Energiepreise gebe es ja noch die Preisbremse des Bundes, die Preiserhöhungen in den Supermärkten aber schlügen ungebremst durch. „Immer mehr Menschen müssen unsere Beratungsdienste und Hilfsangebote in Anspruch nehmen“, berichtet Kostka. Dabei seien vielerorts noch nicht einmal die Nebenkostenabrechnungen eingetroffen. „Das wird die Lage noch einmal verschlimmern“, ist sie sich sicher.
Auch die Maßnahmen, mit denen sich Rot-Grün-Rot vor der Wahl häufig rühmte, konnten gegen diesen Trend keine Umkehr bewirken. Verabschiedet wurde etwa ein Kündigungsmoratorium für landeseigene Wohnungsbaugesellschaften, ein Härtefallfonds gegen Energiesperren und ein 29-Euro-Ticket beziehungsweise ein 9-Euro-Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr. Insgesamt sehen Sozialverbände diese Maßnahmen durchaus positiv. Insbesondere das 9-Euro-Sozialticket und das Kündigungsmoratorium werden gelobt.
Den Härtefallfonds allerdings haben laut Zahlen, die Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) gegenüber der Morgenpost nannte, bisher nur sehr wenige Menschen in Anspruch genommen. Bisher seien lediglich 224 Anträge gestellt worden, sagte Kipping. Nur 58 wurden bewilligt, 99 Anträge abgelehnt. Von den ursprünglich für den Fonds eingeplanten 20 Millionen Euro sind demnach bisher nur 52.000 Euro ausgezahlt worden. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, kritisierte die „hohen Anspruchsvoraussetzungen“ des Fonds – und dass nur Mieter:innen Hilfe beantragen könnten, die einen Vertrag mit ihrem Energieversorger haben.
Mehr soziale Teilhabe
Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte zudem versucht, der sozialen Isolation mit kostenlosen Freizeitangeboten entgegenzuwirken. So gab es etwa zwei kostenlose „Kultursommer“, kostenlose Museumssonntage oder die Jugendkulturkarte mit 50 Euro Kulturguthaben für 18- bis 23-Jährige. Diese Angebote seien wichtig und müssten unbedingt fortgeführt werden, sagt Kostka. „Das ist ja das Erste, wo die Menschen sparen. Essen kaufen muss man ja, deshalb verzichten die Leute als Erstes auf die Kultur.“
Welche Rolle solche Projekte in der mutmaßlichen künftigen Koalition aus CDU und SPD spielen werden, ist nicht abzusehen. Angesichts der konservativen Besessenheit mit ausgeglichenen Haushalten darf man skeptisch sein. Immerhin: Björn Wohlert, der sozialpolitische Sprecher der CDU, versicherte der taz, die „Armutsbekämpfung“ sei selbstverständlich Teil der Koalitionsverhandlungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour