Steffen Grimberg Flimmern und Rauschen: Schnöder Mammon statt Mann im Mond
Im britischen Fernsehen beginnt die Weihnachtszeit, wenn zum ersten Mal der John-Lewis-Weihnachts-Werbespot läuft. Die alljährlichen Kleinspielfilme der Kaufhauskette für gut verdienende Kreise gehören seit fast zwei Jahrzehnten zum britischen Kulturgut. „Very British! Dort einzukaufen können sich nur wenige leisten, aber den Werbespot kennen leider alle?“, sagt die Mitbewohnerin.
Ja, denn da kümmert sich mal ein kleines Mädchen rührend um den alten Mann im Mond oder ein anderes um den süßen kleinen Feuerdrachen, der versehentlich den Tannenbaum auf dem Dorfplatz abfackelt. Der Hase weckt seinen Freund, den Bären, damit der nicht wegen des Winterschlafs das Fest aller Feste verpennt. Und der Schneemann nimmt für Mrs Snowman den gefährlichen Weg in die große Stadt auf sich, um ihr Weihnachtsfreude zu schenken. Wer spätestens hier nicht heult, hat kein Herz.
Das gibt es zwar auch nicht bei John Lewis zu kaufen, aber um den Laden geht es ja höchstens am Rande, sondern um die Botschaft „Alles wird gut, wenn wir uns nur liebhaben“. Dazu wird meist noch ein karitativer Zweck gegen Alterseinsamkeit, für „Save the Children“ oder Tierschutz befördert.
Bis zum Sündenfall 2024. Dieses Jahr spielt der John-Lewis-Spot völlig dreist im John Lewis-Kaufhaus und ist Werbung! Mit stinknormalen Produkten, die ins beste Licht gerückt werden. Aufgehängt wird das Ganze an der mäßig poetischen Geschichte einer Frau, die durch eine Art „The Lion, the Witch and the Wardrobe“-Vorhang in frühere Narnia-Zeiten hopst. Dort trifft sie ihre Schwester in verschiedenen Lebensabschnitten. Und zwar schnöde in bestimmten Abteilungen des Ladens, wo dann von Schmuck und Kleidung bis zu Möbeln so ziemlich alles angepriesen wird. England is not amused. Wie kommt John Lewis dazu, die frohe Botschaft einfach gegen ein „Hallo, wir sind ein Kaufhaus“ auszutauschen? Klar, dem Einzelhandel geht’s schlecht und nicht jedeR hat ’nen alten Mann im Mond zu beschenken. Dass schnöder Mammon auch anders geht, beweist dieses Jahr der Christmas-Spot der Lebensmittelkette Waitrose. Hier hockt die Familie zusammen, doch plötzlich ist das Waitrose Red Velvet Bauble Dessert weg. Geklaut, einfach verschwunden aus dem Kühlschrank. Alle sind verdächtig und haben ein Motiv. Aber Familien-Sherlock Matthew Macfadyen (of „Succession“-Fame) ist wegen des frisch geschenkten Detektivromans abgelenkt …
Waitrose ist übrigens die Lebensmittelmarke von John Lewis, wahrscheinlich hat das Geld in diesem Jahr nur für eine kreative Glanzleistung gereicht. Weswegen der Preis für den Tearjerker-Spot der Weihnachtsaison 2024 ausgerechnet an Amazon geht, wo eine Reinigungskraft zum singenden Star wird. Und „What this world needs now, is love, sweet love“ trällert. Aber diese frohe Botschaft nehmen dem Ausbeuterkonzern weder Mrs Snowman noch der Mann im Mond ab.
Steffen Grimberg ist leitender Redakteur beim KNA-Mediendienst
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen