piwik no script img

Statistik zu Armut und AusgrenzungJeder Fünfte in Deutschland ist arm

Der Anteil armer und sozial ausgeschlossener Menschen in Deutschland ist im vergangenen Jahr weiter gestiegen. Sozialverbände fordern politische Konsequenzen.

Wer alleine lebt und unter 987 Euro im Monat verdient, gilt in Deutschland als armutsgefährdet. Foto: jala / photocase.de

Wiesbaden dpa | Rund 16,5 Millionen Menschen in Deutschland sind einer Statistik zufolge von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Von 2013 bis 2014 sei ihre Zahl rechnerisch um 300.000 gestiegen, berichtete das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag.

Im vergangenen Jahr lag der Anteil der Betroffenen an der Gesamtbevölkerung bei 20,3 Prozent – und damit unter dem EU-weiten Durchschnitt von 24,4 Prozent. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Sozialverband VdK beklagten die nach ihrer Ansicht alarmierenden Entwicklung und forderten Konsequenzen in der Steuerpolitik.

Die Daten stammen aus der Erhebung „Leben in Europa“ (EU-SILC). Danach gelten Menschen als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn ihr Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, ihr Haushalt von erheblicher Entbehrung betroffen ist oder sie in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben.

Wichtigstes Kriterium ist die Armutsgefährdung. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung hat – das heißt, je höher das Durchschnittseinkommen ist, desto eher gelten Menschen als armutsgefährdet. In Deutschland lag der Schwellenwert laut EU-SILC 2014 für eine alleinlebende Person bei 987 Euro im Monat und damit 8 Euro höher als im Jahr zuvor.

Nach der EU-SILC-Statistik war im vergangenen Jahr hierzulande jeder sechste Bürger (16,7 Prozent) von Armut bedroht, insgesamt 13,3 Millionen Menschen. Der Anteil hat sich nach Angaben der Statistiker gegenüber 2013 um 0,6 Prozentpunkte erhöht. Zu anderen Ergebnissen kommt der Mikrozensus: Nach dieser national erhobenen Statistik betrug die Gefährdungsquote im vergangenen Jahr 15,4 Prozent und war etwas niedriger als 2013 (15,5 Prozent). Beim Mikrozensus lag die Einkommensgrenze für Alleinstehende bei 917 Euro monatlich. Für die Differenz seien methodische Unterschiede verantwortlich, erläuterte ein Destatis-Sprecher.

Verteilungsskandal im reichen Deutschland

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sieht einen Verteilungsskandal im reichen Deutschland: „Die aktuellen Zahlen belegen einmal mehr die Notwendigkeit einer verteilungs- und damit steuerpolitischen Kurskorrektur“, sagte Schneider laut Mitteilung. Nötig seien wirksame politische Maßnahmen und eine neue solidarische Steuerpolitik, um diese zu finanzieren. Der Sozialverband VdK verlangte ein Gesamtkonzept: „Armutsvermeidung ist eine Querschnittsaufgabe, derer sich Steuerpolitik, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik und Bildungspolitik gleichermaßen annehmen müssen“, sagte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher laut Mitteilung.

In die SILC-Armutsstatistik fließt auch das Kriterium „erhebliche materielle Entbehrung“ ein. Davon sind fünf Prozent der Menschen in Deutschland nach ihrer eigenen Einschätzung betroffen. Sie gaben in einem Fragebogen unter anderem an, Probleme mit der Bezahlung von Miete oder Rechnungen zu haben oder sich keinen einwöchigen Urlaub im Jahr leisten zu können. In Deutschland seien dafür rund 26 500 zufällig ausgewählte Personen befragt worden, sagte ein Statistiker.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Man muss sich nur den Gini-Koeffizienten anschauen, um zu sehen wie ungleich die Vermögen in Deutschland im Vergleich zu anderen Euro-Ländern verteilt ist.

     

    Der Gini-Koeffizient ist ein Maß zur Quantifizierung der relativen Konzentration einer Einkommensverteilung. Im Falle der maximalen Gleichverteilung der Einkommen (d.h. jede Person bezieht exakt das Durchschnittseinkommen der betrachteten Grundgesamtheit) nimmt der Gini-Koeffizient den Wert Null an, während er im anderen Extremfall einer maximal ungleichen Einkommensverteilung (d.h. eine einzige Person bezieht das komplette Einkommen der betrachteten Grundgesamtheit für sich alleine) den Wert Eins annimmt.

     

    Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ergab laut SPIEGEL online von 2014: "Deutschland lag 2012 bei einem Gini-Koeffizienten von 0,78. Einen höheren Wert hatte kein Land der Eurozone. In Frankreich lag der Gini-Koeffizient der Studie zufolge zuletzt bei 0,68, in Italien bei 0,61 und in der Slowakei bei 0,45. Damit liegt Deutschland vor Griechenland oder Italien - Länder, in denen nach gängiger Vorstellung extremer Reichtum auf bittere Armut trifft. Weltweit betrachtet lag nur die USA mit einem Wert von 0,87 höher als Deutschland."

     

    Alle paar Jahre kommt eine neue Studie mit noch verheerenderen Zahlen heraus, aber gegen Armut wird trotzdem nichts unternommen. Die Reichen werden immer reicher und die Armen müssen an der Tafel um Essen anstehen. Das ist die bittere Realität in unserem reichen Land.

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @Ricky-13:

      "Alle paar Jahre kommt eine neue Studie mit noch verheerenderen Zahlen heraus, aber gegen Armut wird trotzdem nichts unternommen."

       

      Es ist eine Mischung aus stark lobbyisierter Klientellpolitik, neoliberaler Wirtschaftsbetrachtung und systemrelevanter Betrachtung der Armut als Disziplinierungselement.

       

      Die jetzige Lage wäre vielleicht noch als nicht so problematisch zu betrachten, aber der Trend ist es, was einem Sorgen macht. Noch 50 Jahre und unsere Gesellschaft gleicht einer, zwar nicht institutionalisiert, Klassengesellschaft des 19. Jh. Mit einer Gesellschaft wo 3-4 Generationen den gleichen Platz inne haben (Arzt, Wissenschaftler, Automechaniker, TAgelöhner) stimmt etwas gewaltig nicht. Noch sind wir nicht so weit.

  • Ich gehe mal davon aus, dass das mittlere Einkommen (Medianeinkommen) als Ausgangswert für die Armutsberechnung herangezogen wurden, denn ich kann mir rechnerisch nicht vorstellen, dass ca. 1.500 € heute das Durchschnittseinkommen ist.

     

    Vielmehr bedeutet es, dass die Hälfte weniger als 1.500 € verdient und die andere Hälfte mehr - differenzierte Beträge spielen hierbei keine Rolle.

     

    Und das alleine finde ich schon heftig! Und von der großen Gruppe unter 1.500 € sind dann etwa 40% definiert "armutsgefährdet". Wobei ich bei ca. 950 € im Monat, die einem zur Verfügung stehen, kein Gefährdung, sondern eine Tatsache erkennen kann (soweit man kein Student mit Zugaben durch Eltern und Großeltern zzgl. ermäßigten und gesponserten Preisen und Lebenshaltungskosten ist).

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "...wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung hat – das heißt, je höher das Durchschnittseinkommen ist, desto eher gelten Menschen als armutsgefährdet."

     

    Der gängige Fehler, den auch Andrea Nahles macht: mittleres Einkommen und Durchschnittseinkommen sind 2 versch. paar Schuhe (http://www.armut.de/armut-in-deutschland_berechnung-der-armut.php). Das zweite ist etwa doppelt so hoch wie das erste.

    • @10236 (Profil gelöscht):

      Danke für den Hinweis und Link!

       

      "Das deutsche Medianeinkommen – auch als mittleres Einkommen bezeichnet – ist im Unterschied zum Durchschnittseinkommen das Einkommen derjenigen Person, die genau in der Mitte stünde, wenn sich alle Personen in Deutschland mit ihren Einkommen in einer Reihe aufstellen würden. Personen zur Rechten dieser mittleren Person würden mehr als das Medianeinkommen dieser Person verdienen; Personen zur Linken würden weniger als das Medianeinkommen dieser Person verdienen.

       

      Der Vorteil des Medianeinkommens gegenüber dem Durchschnittseinkommen ist, dass extrem hohe und extrem niedrige Einkommen nicht verzerrend wirken, wie das beim Durchschnittseinkommen der Fall ist. Mit anderen Worten: Der Medianwert ist im Vergleich zum Durchschnittswert sehr viel robuster gegenüber Ausreißern (extrem abweichenden Werten). So würde etwa eine Verdoppelung des Einkommens der reichsten Person zwar das Durchschnittseinkommen erhöhen, nicht aber das Medianeinkommen. Das Medianeinkommen hat in den letzten Jahren in Deutschland bei ca. 1500 Euro im Monat (oder sogar darunter) gelegen. Das Durchschnittseinkommen hingegen liegt etwa doppelt so hoch."

      • 1G
        10236 (Profil gelöscht)
        @Hanne:

        "Der Vorteil des Medianeinkommens gegenüber dem Durchschnittseinkommen ist, dass extrem hohe und extrem niedrige Einkommen nicht verzerrend wirken..."

         

        Und, obwohl der Hinweis von einer evangelikalen Hilfsorganisation stammt, gibt es dennoch ein NAchteil: in einer relativ stagnierenden Wirtschaft könnten Einkommenszuwächse v.a. in den oberen Bereichen stattfinden. Somit bleibt ein Teil der Mittelschicht abgehängt und Medianeinkommen verliert absolut und relativ zum Durchschnittseinkommen. Dann kann die tatsächliche Armutsgefährdung sogar über der berechneten liegen. Ich finde leider auf die Schnelle keine stichartigen Daten zur Entwicklung von ME und DE, denkabr wäre jedoch so ein Szenario für die letzten 15 JAhre.

  • IWO, da wird nichts passieren. Jetzt gerade wird bekannt (gemacht) daß über 5 Milliarden EUR Einnahmen fehlen (das wußte man wahrscheinlich schon vor dem Flüchtlingszustrom - obwohl doch vorher immer alles "gesprudelt" und "gebrummt" hatte) - und man rate wo eingespart werden wird: UNTEN. Also weiter Kampf um mickrige EUR für Babyausstattung usw. Die einzige schmutzige Decke kann man ja mit etwas zudecken. Herzliche Grüsse, Merkel, Sparfuchs-Schäuble und Anhang (durchaus auch die Grünen).