Start des Wirecard-Prozesses: Größenwahnsinn vor Gericht

Schillernde Figuren, zahme Kontrolleure, eine filmreife Flucht: Die Wirecard-Pleite hat viele Seiten. Ab Donnerstag wird sie juristisch aufgearbeitet.

Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun

Hauptangeklagter im Wirecard-Prozess ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun Foto: Fabrizio Bensch/reuters

MÜNCHEN taz | Über den Zusammenbruch dieses Unternehmens tagte ein Bundestags-Untersuchungsausschuss, es gibt Bücher, Filme und sogar zwei Theaterstücke:„Kick & Kollaps“ heißt eines davon, unlängst wurde es in Bamberg uraufgeführt. Gezeigt werden laut dem ETA-Hoffmann-Theater „klassische imperialistische Träume“ und „wie Männer in der Wirtschaft Unternehmen gegen die Wand fahren“.

Das Stück handelt von Wirecard, der einstigen Aufsteiger-Firma Nummer eins, ein in den Himmel gelobtes Tech-Unternehmen, das als Vorbild und Aushängeschild für eine wirtschaftlich gelungene Transformation Deutschlands ins digitale Zeitalter galt. Von diesem Donnerstag an geht es nun vor Gericht um Wirecard. Und damit um den mutmaßlich größten Kriminalfall der bundesrepublikanischen Wirtschaft.

Drei Ex-Bosse des einstigen Entwicklers von digitalen Zahlungssystemen müssen sich nach der Mega-Pleite im Juni 2020 nun vor dem Landgericht München verantworten. Sie sind angeklagt wegen „gewerbsmäßigen Bandenbetrugs“. Milliarden Euro wurden aus dem Unternehmen gezogen, Geschäfte erfunden und Bilanzen gefälscht.

Hauptangeklagter ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Der 53-Jährige, der Wirecard von 2002 an geleitet hatte, sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Er bestreitet, in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein, alles soll hinter seinem Rücken geschehen sein.

Der Kronzeuge

Oliver Bellenhaus war Wirecard-Vetreter in Dubai und soll dort nicht existierende Geschäfte fingiert haben. Er stellt die größte Gefahr dar für Braun und den ebenfalls angeklagten Leiter des Bereichs Rechnungswesen Stephan von Erffa: Denn nach dem Firmen-Crash reiste Bellenhaus von Dubai zur Münchener Staatsanwaltschaft und packte aus, er gilt als Kronzeuge.

Es steht ein Mammut-Verfahren an: Allein bis Ende 2023 hat die Wirtschaftsstrafkammer 100 Verhandlungstermine angesetzt, 2024 könnten weitere folgen. Wirecard hatte bis zum Zusammenbruch weltweit massiv expandiert und stellte sich den Strafverfolgern als äußerst verschachteltes Unternehmen dar. Bis zur Anklage untersuchten die Ermittler 340 Firmen, 450 Personen und 1.100 Bankverbindungen. Es kam zu 450 Vernehmungen.

Mit der Digitalisierung hatte Wirecard sein Geschäftsmodell entwickelt. Es wurden neue technische Möglichkeiten geschaffen, wie digital bezahlt werden konnte. Anfangs geschah dies für Produkte in den Schmuddelecken des Internets: Pornografie, Online-Glücksspiel. Doch auch andere Dienstleister, Banken und Kreditkartenfirmen gaben Wirecard Aufträge.

Die Lobbyisten

Die Zentrale lag in einem schmucklosen Bürogebäude in Aschheim bei München, weltweit hatte das Unternehmen 5.100 Beschäftigte. Geschäfte wurden in Singapur gemacht und in den Arabischen Emiraten, in Malaysia und den Philippinen.

Wirecard galt als Verheißung der neuen, globalisierten Welt. Die Firma hatte einige bekannte Lobbyisten – etwa Ole von Beust (CDU), einst erster Bürgermeister von Hamburg, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), früher Bundesverteidigungsminister und Doktorarbeits-Plagiator, sowie den ehemaligen Bild-Chefredakteur und Herausgeber Kai Diekmann. Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich einst in China für Wirecard starkgemacht.

Doch spätestens seit 2015 schossen nach Ansicht der Anklage nicht nur Bilanzsummen, Gewinne und der Aktienkurs in die Höhe, sondern es gab vermehrt Luftbuchungen – Geschäfte, die nur auf dem Papier existierten. „Die letzten Jahre waren die Chefs größenwahnsinnig und höchst kriminell“, sagte die ehemalige Wirecard-Beschäftigte Lisa B. (Name geändert) im Frühjahr in einem Gespräch mit der taz. Jörn Leogrande hatte die Wirecard-Innovationsabteilung geleitet und bilanzierte Ende März: „Die meiste Zeit meines beruflichen Lebens war ich auf dem falschen Dampfer.“

Der Flüchtige

Über Jahre fiel Wirecard nicht auf bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), es wurde viel zu lax kontrolliert. Und die Prüfgesellschaft Ernst & Young drückte offenbar regelmäßig die Augen zu und attestierte dem Tech-Unternehmen ordentliche Buchführung. Bis dann im Juni 2020 bekannt wurde, dass in Singapur gebuchte 1,9 Milliarden Euro nicht aufzufinden waren. Die Firma ging binnen Stunden pleite, Aktionäre verloren 20 Milliarden Euro.

Eine wichtige Person sitzt in München nicht auf der Anklagebank: das einstige Vorstandsmitglied Jan Marsalek, ein Österreicher wie Markus Braun auch. Marsalek gelang eine filmreife Flucht. Er hatte Spuren in die Philippinen und nach China gelegt, war aber wohl über Belarus nach Moskau gereist. Ihm werden vielfältige Kontakte zu österreichischen und russischen Geheimdienstlern nachgesagt. Wahrscheinlich lebt er jetzt in einer Geheimdienst-Villa nahe der russischen Hauptstadt. Er ist international zur Fahndung ausgeschrieben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.