Start der KiWi-Musikbibliothek: Verzwergung hat Pop nicht verdient
Die ersten vier Bände der KiWi-„Musikbibliothek“ inszenieren Popmusik als Biedermeier-Hochkultur. Ein bedauernswerter Rückschritt.
Im Orwell-Jahr 1984 ist beim Verlag Kiepenheuer & Witsch „Rawums.“ erschienen, eine Anthologie, herausgegeben von Peter Glaser. Darin fanden sich Text- und Bildbeiträge, unter anderem von Clara Drechsler, Rainald Goetz, Diedrich Diederichsen und dem Maler Martin Kippenberger, deren Weltzerlegungslust erkennbar an den Moden und Stilen von Pop geschult war.
Ein existenzstiftender Paradigmenwechsel, der den Autor:Innen höheres Reflexionstempo abverlangte, so steht es auf dem schwarzen Einband. Der zeichensetzende Punkt des Titels „Rawums.“ markiert diese Zäsur bereits lexikalisch. Glaser erschauderte im Vorwort („Zur Lage der Detonation“) vor der Befindlichkeitsliteratur, da kritische Sensibilität ein Stadium erreicht habe, „in dem man mit einem Teleobjektiv seinen eigenen großen Zeh fotografiert“. Eine Absage an jede Form von Innerlichkeit und den wehleidigen Ton der herrschenden Hochkultur.
Der alte Plunder der Achtziger soll hier nicht glorifiziert werden, er wird auch nur erwähnt, weil im selben Verlag seit Kurzem eine „Musikbibliothek“ publiziert wird, in der bedauerlicherweise genau jener Befindlichkeitsgestus als Pop deklariert wird, vor dem Peter Glaser damals gewarnt hat. „Unsere Liebe zur Literatur hatte schon immer eine kleine Schwester: die Liebe zur Musik“, schickt KiWi-Lektorin Kerstin Gleba vorweg. Dabei ist es doch so, dass das Überwältigtwerden durch Popmusik durchaus etwas Egalitäres im Kulturverständnis bewirkt hat: „Alles wird Augenblick, das Leben wird Moment“, hat Klaus Theweleit diesen Vorgang mal treffend beschrieben.
Wie die Reclam-Materialienbände
Jedenfalls sind bis jetzt vier Bände in der KiWi-Musikbibliothek erschienen: Thees Ullmann schreibt über ein Konzert der Toten Hosen, Tino Hanekamp nähert sich dem australischen Rockstar Nick Cave, Anja Rützel bekundet ihr Fantum zu Take That und Sophie Passmann denkt mit Frank Ocean über sich selbst nach.
Das handliche Buchformat erinnert von der Aufmachung her an die Materialbände zu den gelben Reclam-Klassikerausgaben. Autor:Innen-Namen liegen quer über denen der Künstler, Subjekt kreuzt Objekt. Ein bisschen suggeriert die Anordnung, als seien die Autor:Innen ebenbürtig oder sogar größer als der Gegenstand, über den sie schreiben.
„Die Pubertät ist ein Tropfen Wasser auf einem Blatt, auf dem ein Vogel landet.“ (Ullmann) „Im Dezember 2016 saß ich in einer kleinen Kapelle in einer niederrheinischen Kleinstadt und beschloss, dass meine Beerdigung ganz anders werden sollte.“ (Passmann) Zwei Anfangssätze, die belegen, wie Pop aktuell für Verzwergung steht, wo er früher Horizonte erweiterte.
Tino Hanekamp: „Nick Cave“ (144 S.), Sophie Passmann: „Frank Ocean“ (96 S.), Anja Rützel: „Take That“ (160 S.), Thees Uhlmann: „Die Toten Hosen“ (192 S.), alle erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2019, 10–12 Euro
Auch wenn es gelingt, über die ersten Sätze aller vier Fibeln hinauszulesen, finden sich nicht viel mehr als ermüdende Monologe über den Alltag, reaktionäre Provinzialität, ausgegeben als Widerstandsakt und eine eindimensionale Auslegung der ersten Person Singular zur allwissenden Erzählebene, in der jede Staubmusche aus dem Bauchnabel als Sensation verkauft wird.
Es kostete Anstrengungen, Pop zu einem Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu machen. Dass er noch heute Raum für unkonventionelle künstlerische Aktivitäten und Interventionen bietet, ist keine Selbstverständlichkeit. In der „Musikbibliothek“ ist diese Errungenschaft zur Werbefläche geschrumpft, im Tonfall von Homestorys wird aus einem Mausoleum des leeren Konsums berichtet. „Ich lege den Gang ein, gebe Gas, der Jeep ruckelt den Hang hoch.“ (Tino Hanekamp)
Seltsames Genre Popliteratur
Vielleicht liegt es ja auch am urdeutschen Genre „Popliteratur“, dass aus dem beweglichen Feld Pop ein starres literarisches Reglement wurde. Genau genommen gibt es im angloamerikanischen Raum gar keine Popliteratur. Was es dort gibt, ist Fan-Fiction, ein Westentaschenformat, das entstand, als Fans von Arthur Conan Doyle begannen, in den 1930ern eigene „Sherlock Holmes“-Stories zu verfassen.
Seit gut zehn Jahren existiert die Reihe „33 1/3“ beim US-Verlag Continuum, in der unbekannte Autor:Innen neben prominenten Schriftstellern gleichberechtigt über ihnen wichtige Popalben schreiben und die Egos schön hinter dem Forschungsgegenstand belassen. Und es gibt den britischen Verlag Zero Books, der es mit Minibudget geschafft hat, aktuelle Popdiskurse in allen Facetten abzubilden und somit der grassierenden antiintellektuellen Stimmung etwas entgegenzusetzen.
Tino Hanekamp hat als Autor des Romans „So was von da“ und ehemaliger Clubbetreiber schon stärkere Duftmarken gesetzt, und Anja Rützels journalistische Texte über Trash-TV-Formate sind lustvolle Verdikte über Mainstreamkultur. In Zeiten, in denen Friedrich Merz gefühlt alle zwei Tage zum nächsten „Popstar der CDU“ ausgerufen wird, wäre es sinnvoll „Pop“ eher in homöopathischen Dosen einzusetzen und die Sophistication nicht völlig unter den Tisch fallen zu lassen.
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