Standbild: Ende der Verranztheit
„Countdown Grand Prix Eurovision 2000“, Fr., 20.15 Uhr, ARD
Natürlich waren nach der Sendung alle Traditionalisten beleidigt: Dieter Thomas Heck, weil er in der deutschen Vorentscheidung zum Grand Prix d’Eurovision keinen Schlager mehr erkennen wollte, wie auch Patrick Lindner – womöglich, weil er nicht schon wieder gebeten wurde, an diesem Ereignis erfolglos teilzunehmen. Auch Ralph Siegel trug schwer daran, dass seine Interpretin Corinna May in ihrem Beerdigungsschlager „I belive in God“ nur Zweite wurde. Die Zeit dieses Trios scheint abgelaufen, denn tatsächlich glich am Freitag die Sendung erstmals in ihrer Geschichte überhaupt einer Pret-à-Porter-Leistungsschau des aktuellen deutschen Popgeschäfts. Am Ende hat Stephan Raab Konkurrenz als populärster deutscher Entertainment gewonnen. Sein Song „Wadde hadde dudde da?“ entzückte 57 Prozent der 1,6 Millionen Telefonanrufer. Diese Zustimmung kann auch als Requiem auf das verranzte deutsche Schlagertum der Hecks & Co. begriffen werden. Denn wer wollte, konnte für den Kölner Sänger Marcel stimmen. Sein Schlager wurde nur Letzter, die Ära des öligen Herz-und-Schmerz-Genöles scheint vorbei. Vor ihm lagen Songs aller Stile: Heavy Metal, Pop, Camp, Comedy, Ballade und Disco. Knorkator, Lotto King Carl und Kind of Blue haben nach ihren Auftritten Plattenverträge bekommen, Einladungen in die quotensieche ZDF-Hitparade durch ihren um allzu zarte Renovierung bemühten Moderator Uwe Hübner allerdings noch nicht.
Der NDR samt Moderator Axel Bulthaupt haben sich am Freitagabend mit ihrer Popshow dagegen die Marktführerschaft erarbeitet: 7,85 Millonen waren es, diese Quote wird in diesem Jahr wohl nur noch durch Sport und „Wetten dass“ getoppt werden können. Die für den Spätsommer geplanten deutschen Schlagerfestspiele sind im Übrigen mangels Quotenerwartung abgesagt worden. Der Grand Prix avanciert zum Familienereignis. Dieses Jahr haben unsere Muttis den Kürzeren gezogen.
Jan Feddersen
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