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Stadtnatur in BerlinUnser Kiez ist ihr Revier

Stadtranger*innen sollen den Berliner*innen die Natur vor ihrer Haustür näherbringen. Hier ist die Artenvielfalt oft höher als auf dem Land.

Ranger*innen Toni Becker und Julia Kionka auf ihrem Weg durch den Viktoriapark Foto: Christian Mang

Die neunjährige P. schlug vor ein paar Wochen Alarm: „Rettet Millionen Leben!“, stand auf ihren selbstgemalten, bunten Plakaten, die sie rund um den Viktoriapark aufgehängt hatte. Der Kreuzberger Wasserfall war aufgrund von Reparaturmaßnahmen ausgestellt, Kaulquappen und Laich drohte der Tod. „Wasser Marsch!“ hatte die Neunjährige ihre Aktion öffentlichkeitswirksam betitelt – leider vergeblich.

„Dieses Jahr wird es wohl keine neuen Erdkröten im Viktoriapark geben“, sagt Toni Becker, Stadtnatur Ranger für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Gemeinsam mit seiner Kollegin Julia Kionka steht an einem warmen Spätnachmittag Mitte Mai vor dem ausgetrockneten Becken. Seit wenigen Tagen sind die beiden im Rahmen des Modellprojekts Stadtnatur Ranger*innen im Einsatz. Als Ansprechpartner*innen in Naturschutzfragen sollen sie die Berliner*innen stärker mit der Natur in ihrem Kiez verbinden. Die Senatsverwaltung für Umwelt finanziert das Projekt bis Ende 2021 mit jährlich rund zwei Millionen Euro. Danach soll entschieden werden, ob es verlängert wird. Trägerin ist die Stiftung Naturschutz Berlin.

„Ranger sind Generalisten, und das ist das, was sie unheimlich effektiv und wertvoll macht“, sagt Lars Büttner, Projektleiter der Stadtnatur Ranger*innen bei der Stiftung Naturschutz. Der Beruf sei sehr vielseitig: „Ranger*innen können mit Fachleuten reden, umweltpädagogische Angebote machen, Kartierungen und Monitoring durchführen, aus den gesammelten Daten Rückschlüsse ziehen und Pflege- und Erhaltungsmaßnahmen vorschlagen. Und schließlich können sie ihre Rückschlüsse in Öffentlichkeitsarbeit ummünzen und somit in die Bevölkerung reintragen.“ Büttner hält das für einen „sehr cleveren Ansatz“. Ordnungsbefugnisse haben die Berliner Stadtnatur Ranger*innen nicht.

Zwölf Ranger*innen sind zurzeit in den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf im Einsatz. Bis zum Herbst sollen weitere fünf Bezirke dazukommen, nachdem sich das Einstellungsverfahren aufgrund von Corona verzögert hatte. Das Projekt wird während der Laufzeit wissenschaftlich begleitet. Der Bezirk Pankow setzt bereits seit einem Jahr eigenständig drei Ranger*innen ein.

Ranger*innen unterwegs in Berlin

Der Beruf Ranger*innen werden in der Regel in Großschutzgebieten – also Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks – eingesetzt. Das Besondere in Berlin: Die Stadtnatur Ranger*innen sind nicht nur in ausgewiesenen Schutzgebieten, sondern auch auf anderen städtischen Grün- und Freiflächen unterwegs. Nach Absprache mit den Bezirksämtern sind sie auch auf Brachflächen, Friedhöfen oder in Parks und Kleingartenanlagen tätig.

Das Wissen Unter den Berliner Stadtnatur Ranger*innen befinden sich Spezialist*innen ganz unterschiedlicher Fachrichtungen, darunter Ornitholog*innen sowie Baum-, Fledermaus- und Froschexpert*innen. Ihre konkreten Aufgaben variieren je nach Bezirk. Inspiration für das Modellprojekt war die Naturwacht Berlin e. V. mit ihrem Natur Ranger Björn Lindner im Landschaftspark Marienfelde. (taz)

Becker ist schnell abgelenkt – „Die plärrenden Kinderstimmchen – eine Blaumeisen-Familie! Und dahinter brüllt eine Amsel“, sagt er mitten im Gespräch. Für den Ornithologen und Geografen ist der strukturreiche Viktoriapark ein Ereignis. „Buchfink, Spatzen, da drüben ein Rotkehlchen – das ist außergewöhnlich für so einen warmen Tag und spricht für die Qualität des Parks. Das ist eben nicht Sanssouci“, fasst er zufrieden zusammen. Die identifizierten Vogelarten gibt er im kühlen Schatten der Bäume in seine App ein. Datenerfassung ist ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit. Auch Bürger*innen können sich über die App ArtenFinder daran beteiligen.

Neulich haben Becker und Kionka neun Schmuckschildkröten aus Nordamerika im Engelsbecken gefunden – eine invasive gebietsfremde Art, die auf der schwarzen Liste der EU steht und im Freiland bekämpft werden soll. Auf der Liste stehen Arten, die auf dem europäischen Kontinent nicht beheimatet sind und mit ihrer Ausbreitung Ökosysteme gefährden. „Hier sind alle Arten aufeinander abgestimmt, und das ist dann ein ökologisch ziemlich unsanfter Eingriff“, sagt Becker. Invasive Arten verdrängen die heimischen und können zu einer dauerhaften Verschiebung in den Ökosystemen führen.

Daten sammeln über Pflanzen und Tiere

Die Ranger*innen können nun dazu beitragen, die Berliner Datenlage auch über diese Tier- und Pflanzenarten zu verbessern. Zu den invasiven Arten in Berlin zählt auch der ursprünglich aus den USA stammende Rote Amerikanische Sumpfkrebs, der auch „Berliner Hummer“ genannt und mittlerweile als Berliner Delikatesse in Restaurants angeboten wird.

Kionka zieht eine Zwergfledermaus und einen Abendsegler aus ihrer grünen Arbeitsjacke, zwei selbstgenähte Fledermausexemplare in Echtgröße. Sie hofft, spätestens im Herbst mit den Fledermausführungen loslegen zu können. Vor ihrem Beruf als Rangerin hat die Biologin als Fledermausgutachterin gearbeitet.

In Berlin finde man die Zwergfledermaus am häufigsten. „Die schreit so laut wie ein Presslufthammer, aber auf einer Frequenz, die wir nicht hören können“, erklärt Kionka. Den Abendsegler könne man hingegen mit bloßen Ohren hören. Für alle anderen Fledermausarten gibt es einen Ultraschalldetektor, den die Rangerin an ihr Handy anschließen kann.

„Die Stadt ist zum alternativen Hot-Spot der Artenvielfalt geworden“, sagt Büttner. Der ländliche Bereich sei häufig ausgeräumt und im Sinne der Landwirtschaft sehr effektiv gegliedert. Die Stadt wird dadurch nun auch zum Rückzugsort für viele Arten. In Berlin gibt es mehr als 20.000 Tier- und Pflanzenarten und rund 13.000 Hektar öffentliche Grünflächen. Nach Angaben des NABU machen öffentliche Grünflächen wie Grünanlagen, Spielplätze, Kleingärten, Friedhöfe, Straßen- und Parkbäume etwa 14% der Stadtgebietsfläche aus. Auch deshalb ist Berlin als Großstadt für viele attraktiv. „Aber das ist kein Selbstläufer, das muss man schon auch pflegen und entwickeln“, betont Büttner.

Viel ehrenamtlicher Naturschutz

In Berlin gibt es einen aktiven, ehrenamtlichen Naturschutz. Büttner hofft, dass das Ranger*innen-Projekt wie eine Art Katalysator wirkt, der die Zusammenarbeit stärkt. Die Stadtnatur Ranger*innen sind an die Untere Naturschutzbehörde angebunden und werden mit den Straßen- und Grünflächenämtern der Bezirke sowie dem Ordnungsamt zusammenarbeiten. Eigene praktische Arbeiten führen Ranger*innen nur nach Absprache durch.

Die Geschäftsführerin und Pressesprecherin des NABU Landesverbandes Berlin, Jutta Sandkühler, freut sich über die Stadtnatur Ranger*innen. „Wir befürworten, dass es für die Vor-Ort-Betreuung naturschutzfachlich wertvoller Flächen jetzt feste Strukturen gibt“, sagt sie. Dies sei eine positive Ergänzung zu der jahrelangen Arbeit von Ehrenamtlichen, die ebenfalls Führungen anböten und sich in Absprache mit den Flächeneigentümern im praktischen Naturschutz engagierten. „Im Viktoriapark haben wir unter anderem neue Nistkästen angebracht, Deckungsmöglichkeiten für Vögel geschaffen und die Brutvögel kartiert.“

Bezirkliche Ranger*innen könnten auch was verbieten

Sandkühler hält es jedoch für sinnvoller, die Ranger*innen direkt bei den Bezirken, also den Unteren Naturschutzbehörden, anzusiedeln. Davon verspricht sie sich kürzere Kommunikationswege und größere Handlungsfähigkeit. „Als Mitarbeiter*innen der Bezirke könnten Ranger auch kurzfristig selbst tätig werden, wenn etwa Weidezäune defekt sind und eine rasche Reparatur erfolgen muss“, sagt sie.

Denn in den meisten Schutzgebieten mangele es an der Umsetzung. In der Senatsverwaltung würden jedoch nur zwei Personen finanziert, um Maßnahmen zur Erhaltung und zur Pflege in den Berliner Naturschutzgebieten umzusetzen. „Vor diesem Hintergrund kann man sich auch fragen, ob die 2 Millionen Euro hier wirklich in Gänze sinnvoll eingesetzt sind.“

Denn weil sie nicht bei den Bezirken angesiedelt sind, lassen sie sich auch nicht an das Ordnungsamt und die Polizei anbinden. Das fände Sandkühler aber sinnvoll. „Bei Verstößen gegen Schutzgebietsverordnungen sind die Ranger*innen zahnlose Tiger“, sagt sie. „Es braucht zuweilen auch einen Schutz der Natur vor Menschen, die sich in hochsensiblen Zeiten in Schutzgebieten bewegen.

Die zum Beispiel ihre Hunde zur Laichzeit in Amphibiengewässern baden lassen und damit den Fortbestand der Population gefährden, ferngesteuerte Boote an die Nistplätze von Wasservögeln steuern oder auf Wiesen lagern, auf denen Feldlerchen brüten, wodurch sie die Aufgabe der Brut in Kauf nehmen.“ Die größte Herausforderung für den Schutz der Stadtnatur bleibe jedoch die Sicherung von wertvollen Flächen vor Bebauung und Infrastrukturmaßnahmen.

Vermitteln zwischen Mensch und Natur

Umweltstadträtin Clara Herrmann vom Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain freut sich auf die Umweltbildungsmaßnahmen in ihrem Bezirk. „Unsere Ranger*innen werden zu Führungen in der Stadtnatur einladen und Naturlehrpfade entwickeln. Dabei wird es vor allem um Fledermäuse und Wildbienen, aber auch um die Naturdenkmale in Friedrichshain-Kreuzberg gehen“, teilte sie auf taz-Anfrage mit.

Die Gebietsentwicklung am Friedrichshainer Spreeufer hat für Herrmann zurzeit Priorität, dies sei von besonderer ökologischer Bedeutung. Die Renaturierung der unter Naturschutz stehenden Inseln – der Liebesinsel und der Insel Kratzbruch vor dem Rummelsburger See – soll noch in diesem Jahr beginnen. „Wir wollen unsere ökologischen Hotspots dauerhaft erhalten und ausbauen – als Baustein auf dem Weg zur klimaresilienten Stadt.“

Becker und Kionka sehen sich vor allem als Vermittler*innen zwischen Mensch und Natur. Sie können viel erzählen: Über Mauerfarn und Pfaffenhütchen, Waldkauz, Habicht, Mauerpfeffer und Mandarinenten, Maulbeerbaum, Knöterich und Mönchsgrasmücke. „Wir bringen Vielfalt nahe, und sind da auch geduldig“, verspricht Becker. „Wir erklären auch gern den Unterschied zwischen einer Blau- und einer Kohlmeise.“

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