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Stadtgespräch Daniel Zylberstajn-Lewandowski aus LondonSomalische Jugendliche zwischen Erwartungsdruck aus der eigenen Familie und gefährlichen Verlockungen

Ein paar Männer von der Londoner Kripo stehen vor einem mehrstöckigen Haus im viktorianischen Stil. Hier, in ­Kentish Town im Londoner Stadtteil Camden, begann Ali Harbi Ali am 15. Oktober seine Reise, um in Leigh-on-Sea, 50 Kilometer östlich von London, den Unterhausabgeordneten David Amess mit einem Messer zu erstechen. Es mag vielleicht sogar in dieser Wohnung gewesen sein, wo sich der 25-Jährige somalischer Herkunft radikalisierte.

Ein paar Hausnummern weiter erinnert eine blaue Hausplakette an den verstorbenen Schauspieler Roger Lloyd-Pack. „Der war mein Ehemann“, erklärt eine ältere Dame im schlichten Pulli, die vor dem Haus steht. Jane Markham, 72, versteht nicht, wie jemand aus ihrer Straße so ein schreckliches Verbrechen ausführen konnte. „Wir haben ein jährliches Straßenfest hier, die Leute kennen sich“, sagt sie und meint, es könne sicher mehr getan werden, damit kulturelle Barrieren fallen.

Es gibt viele aus Somalia stammende Familien hier in Kentish Town. Die meisten kamen in den 1990er Jahren als Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg hierher. Ihre Kinder wurden meist in London geboren. Das Herz dieser somalischen Community liegt in einer Marktstraße inmitten eng aneinandergereihter, teils hoher Sozialwohnbauten. Billigcafés stehen neben Halal-Metzgereien, ein weißer junger Mann verkauft wahrscheinlich Diebesgut zum Schnellkauf an einer Ecke. Auf den Weg dahin erinnert ein Graffiti an den Kongolesen Calvin Bungisa, im Alter von 22 Jahren hier bei einer Messerattacke erstochen – und daran, dass es hier schon lange Probleme mit gewalttätigen Jugendgangs gibt.

In einem Laden voller kleiner Elek­trogeräte, Handys und Krimskrams gibt es auch Bücher über Somalias ehemaligen Diktator Siad Barre (1910–1995). Ältere somalische Männer sitzen im Hinterraum im Kreis. Der Ladenbesitzer ist nicht zum Gespräch aufgelegt. „Gehen Sie zu einen der somalischen Communityzentren“, winkt er ab. Doch die sind seit dem Attentat geschlossen – zur Sicherheit. Der Vorsitzende eines der Zentren entschuldigt sich am Telefon. Es habe Drohungen gegeben.

In einem Café ohne Namen stellt sich der aus Somalia stammende Besitzer dem Gespräch, „aber bitte ohne Nachnamen“, sagt der 58-jährige Mahmood. „Wir sind alle schockiert, was am Freitag geschah.“ Er schildert die Angst vieler somalischer Einwanderer, dass ihre Jungs in Gangs landen. Das sei das Hauptproblem, Terrorismus und Radikalisierung eigentlich weniger. Schuld trage das Londoner Umfeld – und die britischen Wertvorstellungen, die Eltern nicht erlaubten, ihre Kinder zu züchtigen.

Abdi Abdi, 53, ein Gast im Café, weiß von Somalis, die London lieber verlassen, als ihre Kinder der Liberalität auszusetzen. „Sie ziehen dann in die Türkei, nach Saudi-Arabien oder Dubai“, weiß er.

Auf dem Markt sieht man nur Männer. In Coram’s Fields, einer der wenigen Jugendeinrichtungen in Camden, kümmern sich Sozialarbeiter ebenfalls nur um junge Männer hauptsächlich ostafrikanischen Hintergrunds, von Mädchen und Frauen keine Spur. An die 30 junge Männer spielen dort gerade gemeinsam Fußball.

Abdulrahman Ali, 17, wartet auf seine Einwechslung. Er trägt eine dicke schwarze Brille und einen gepflegten langen Wintermantel. Zum Mord an David Amess meint er: „Wenn Sie mich fragen, hat den Täter jemand dazu gedrängt.“ Ali glaubt, dass Jugendeinrichtungen wie Coram’s Fields gegen so etwas helfen. Doch im vergangenen Jahrzehnt kürzte die konservative Sparpolitik deren Budgets, und viele mussten schließen. Wie ist das Leben für junge Menschen wie ihn heute?

„Wir stehen unter immensem Leistungsdruck unserer Eltern“, antwortet der 17-Jährige. Für manche lägen die ­Erwartungen zu hoch, glaubt er. Die würden dann in die Fänge anderer geraten, die ein leichteres Leben versprächen. Das könnten die Straßengangs sein. Oder auch andere Kräfte vielleicht.

Sein eigener Vater bezahlt mit seinem Busfahrerjob Alis private Erziehung und die seiner drei Schwestern. Ali möchte später Rechtsanwalt werden. „Ich bin gerade von der Polizei angehalten worden, weil ich schwarz bin und Schwarz trage.“

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