Stadtentwicklung: Friedhofsunruhe in Prenzlauer Berg

Die Kirche will Teile eines Friedhofs an der Heinrich-Roller-Straße als Bauland verkaufen. Anwohner wollen die Grünfläche nicht gegen Townhouses tauschen

Der Kranz verrät es. Da, das eine Grab wird noch besucht. Auch nach über 30 Jahren, denn seither ist auf diesem Teil des Friedhofs St. Marien - St. Nikolai in Prenzlauer Berg niemand mehr bestattet worden. Das Gras steht hoch, die Bäume neigen sich tief über die verwitterten Steine. Auch künftig wird hier kein Begräbnis mehr stattfinden: Die Gemeinde plant, einen Teil des Friedhofs als Bauland zu verkaufen.

Im Juni 2006 beschloss das Abgeordnetenhaus den Friedhofsentwicklungsplan. Er legt fest, wie mit überflüssigen Friedhofsflächen umgegangen werden soll. Überflüssig sind sie, weil in Berlin immer weniger gestorben wird: Wurden 1970 noch 58.000 Sterbefälle gezählt, waren es 2005 nur 32.000. Das liegt an der steigenden Lebenserwartung, aber auch an der kriegsbedingten demografischen Lücke. Der Plan sieht vor, elf Friedhöfe zu schließen, auf 75 weiteren sollen Teilareale umgewandelt werden, vor allem in Grünflächen. Manche auch in Bauland. Wie hier in Prenzlauer Berg.

Eigentlich sind es zwei Friedhöfe, und beide tragen lange Namen: Georgen - Parochial I und St. Marien - St. Nikolai II. Als sie 1858 eingeweiht wurden, lagen sie vor den Toren der Stadt. Heute bilden sie eine Insel zwischen zwei Straßen, auf denen der Verkehr tost: der Prenzlauer Allee und der Greifswalder Straße. Im Norden schließt sich hinter der Heinrich-Roller-Straße das Winsviertel an.

Dort herrscht Aufruhr. Denn auf der Karte des Friedhofsentwicklungsplans ist ein breiter Streifen der beiden Flächen gelb markiert. Gelb bedeutet "sonstige Nutzung", und das heißt in diesem Fall: Entlang der Heinrich-Roller-Straße sollen Wohnhäuser entstehen. Für die Kirchengemeinde St. Marien - St. Petri ein lukratives Geschäft, denn Bauland ist hier begehrt. Für die AnwohnerInnen eine Katastrophe: Sie befürchten, dass ihnen der direkte Zugang zum Friedhof bald versperrt ist und dass sie statt ins Grüne bald auf Neubauten schauen.

"Die haben uns belogen", sagt Barbara Schneider. "Noch im Frühjahr hat die Friedhofsverwaltung behauptet, an den Bebauungsgerüchten sei nichts dran." Sie sitzt im Goldapfel. Das Café liegt am Friedhof, und es passt zum neuen Prenzlauer Berg - ganz in Beige, quadratische Hocker, Tische aus glänzendem Holz. Auch Schneider passt hierher: sehr schlank, eng geschnittene Jacke aus hellem Leder, die dunklen Haare glatt zurückgekämmt. Sie redet schnell und aufgeregt, breitet Karten auf dem Tisch aus. Im Kinderwagen plappert ihre Tochter.

Seit die Altbauten im Winsviertel saniert wurden, sind vor allem junge Familien hergezogen. Barbara Schneider wohnt seit einem Jahr hier. "Es war schon lange mein Traum, hier am Friedhof zu wohnen", sagt sie. Niemand wohne hier zufällig, alle seien wegen des Friedhofs gekommen. Wegen der schönen Wege durch das verwilderte Grün, entlang den denkmalgeschützten Gräbern. Allein dass über eine eventuelle Bebauung nachgedacht wird, empört sie.

Im April bestätigte Pfarrer Johannes Krug von der Gemeinde St. Petri - St. Marien die Pläne. Schneider wollte etwas tun. Mit Nachbarn gründete sie eine Bürgerinitiative, 15 Leute gehören zum engeren Kreis. Sie sammelten Daten und Unterschriften, lernten, was eine Bürgeranfrage ist und wie schwierig es ist, andere zu motivieren. Sie trugen alle Argumente zusammen, die gegen eine Bebauung sprechen: dass das Winsviertel eines der dichtestbesiedelten Gebiete Berlins ist und extremen Mangel an Grünflächen hat; dass die verwilderten Friedhöfe laut Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz wertvolle Biotope sind; dass sie außerdem Teil einer Frischluftschneise sind, deren Unterbrechung das Stadtklima deutlich verschlechtern würde; dass die Kirchengemeinde seit den 90ern Millionen an Fördergeldern vom Senat und der Stiftung Deutsche Klassenlotterie erhalten hat, um die Friedhöfe zu sanieren; dass nach Berliner Friedhofsgesetz stillgelegte Bestattungsflächen grundsätzlich als Grünland genutzt werden und Ausnahmen nur bei zwingendem öffentlichem Interesse gemacht werden können; und dass als einziges "öffentliches" Interesse die Finanznot der evangelischen Kirche genannt wird.

"Es geht nicht nur darum, dass ich persönlich betroffen bin", sagt Schneider. Sie redet sich in Rage, schimpft auf "diesen ganzen Filz", auf die Kirche, die nur ihre Scheibe abbekommen wolle vom Immobilienboom, auf den Senat, der ihr zuarbeite. "Wir sind ja nicht die Einzigen", sagt Schneider. Überall, wo die Grundstückspreise hoch seien, würden Kirche und Land versuchen, Friedhofsflächen an Investoren zu verkaufen, in Mitte, in Friedrichshain. "Wir in Prenzlauer Berg sind der Prüfstein", sagt sie. "Wenn die Kirche die Bebauung hier durchsetzt, klappt es auch anderswo."

Auch Michail Nelken ist sauer. "Unsere Position ist: Das ist kein Bauland", sagt der für Stadtentwicklung zuständige Pankower Stadtrat. "Und wir werden auch keinen Plan B aufstellen, damit es welches wird." Richtig überzeugt klingt Nelken nicht. In den 90er-Jahren war er selbst Sprecher einer Bürgerinitiative, die gegen Sanierungen in Prenzlauer Berg kämpfte.

Im Anhang des Friedhofsentwicklungsplans steht, dass ursprünglich geplant war, den Georgen-Parochial-Friedhof zu erhalten und St. Marien - St. Nikolai in Grünflächen umzuwandeln. Erst auf Intervention der Gemeinde wurde eine Teilfläche zur "sonstigen Nutzung" ausgeschrieben - und zwar gegen den Willen des Pankower Bezirksamts. Nelken ärgert es, dass sich der Senat in diesem Fall über den Bezirk hinweggesetzt hat. "Rufen Sie doch mal den Senat an", sagt er. "Würde mich interessieren, wie die begründen, dass das jetzt bebaut werden soll."

Beate Profé, Referatsleiterin für Freiraumplanung und Stadtgrün der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, liefert eine Begründung: Das Problem habe einen finanziellen Hintergrund. Solange auf einer Fläche ausreichend bestattet werde, seien auch Einnahmen da. Werde eine Fläche geschlossen, koste sie den Träger Geld. "Es ist ja nicht Aufgabe der Kirche, Grünflächen zu unterhalten", sagt sie. Und der Senat wolle die Kirche nicht im Ausgleich dafür bezahlen.

Den Ärger kann Profé nicht nachvollziehen. Schließlich seien an der Erarbeitung des Plans alle beteiligt gewesen: die Bezirke, der Senat, Naturschutzverbände. Es habe, wie in solchen Fällen üblich, eine Abwägung zwischen den einzelnen Interessen stattgefunden. "Und im Endeffekt geht es da ja nur um einen Streifen, wir reden ja nicht über die ganze Fläche!"

Eine Bettlerin sitzt vor dem Eingang der Marienkirche am Alexanderplatz, TouristInnen drängen sich an ihr vorbei. Pfarrer Johannes Krug wartet im Vorraum, jung, T-Shirt, braungebrannt. Der Friedhof im Winsviertel ist einer von acht Friedhöfen, die zur Evangelischen Gemeinde St. Petri - St. Marien gehören. Die Gemeinde gibt sich modern: Die "Citykirche" St. Marien ist rund um die Uhr geöffnet, für internationale Gäste bietet sie Gottesdienste auf Englisch an. Auf der Website der Gemeinde kann man Gebetsanliegen per Formular an den diensthabenden Pfarrer schicken.

"Auch für uns ist das schwer", sagt Pfarrer Krug. "Aber man muss ja auch sehen, was die Alternativen sind." Sicherlich habe St. Petri - St. Marien einen höheren Umsatz als andere Gemeinden. Aber sie habe auch hohe Schulden und viele Aufgaben: zwei Kirchen, die es zu unterhalten gilt, die Suppenküche, die Obdachlosenunterkunft im Winter. Ohne Friedhofsfläche zu verkaufen, müsste man vielleicht die Marienkirche schließen. Oder Mitarbeiter entlassen.

Krug redet ruhig und überlegt, vermeidet jedes unachtsame Wort. Es muss schwer sein, ihm in einer Diskussion zu widersprechen, er ist es gewohnt, zu überzeugen. Dass die Kirche ehemalige Friedhofsflächen bebauen lässt, sei gängige Praxis. "Die Sicht der Bürgerinitiative ist sehr einseitig", sagt der Pastor. Schließlich seien es nicht nur Großinvestoren, die Interesse an der Fläche zeigten: "Bei uns melden sich Familien oder Gruppen, die Wohnprojekte planen. Viele träumen davon, genau in dieser Lage zu bauen."

Den Eindruck, es gebe bereits konkrete Pläne, möchte Krug vermeiden. "Wir stehen erst am Anfang." Die Gemeinde arbeite mit einer Projektentwicklungsgesellschaft zusammen. Die Fläche würde sie wohl eher verkaufen, als sie selbst zu bebauen. "Dafür fehlen uns die Mittel." Was gebaut werden soll, sei auch noch nicht klar. Vielleicht Townhouses, vielleicht mehrstöckige Wohnhäuser. "Das hängt auch davon ab, was wir genehmigt bekommen." Die Summe, die sich die Gemeinde vom Verkauf erhofft, will er nicht nennen.

Barbara Schneider und ihre MitstreiterInnen haben Plakate von ihren Balkonen gehängt und beim Petitionsausschuss Beschwerde eingereicht. Das Bezirksparlament hat sich gegen die Bebauung ausgesprochen. Zwischen Senat und Bezirk laufen Gespräche, Anfang August wird sich die Kirchengemeinde mit Bezirksvertretern treffen.

Pfarrer Krug hat der Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz (BLN) angeboten, sich an der Planung zu beteiligen. Sie hat zugesagt. Damit die Bebauung, wenn sie denn kommt, möglichst schonend umgesetzt wird. "Es ist nun mal Eigentum der Gemeinde", sagt Edelgard Backhaus von der BLN. "Wir sind da nicht mehr so kämpferisch." Um den Friedhof herum knüpfen sie derweil an ihren Netzwerken: die, die an der Heinrich-Roller-Straße gern Häuser sähen. Und die, die das verhindern wollen.

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