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Stadtarchivar von RatzeburgDer Rückblicker

Als Stadtarchivar von Ratzeburg kümmert sich Christian Lopau um Jubiläen, Stolpersteine und Flüchtlingsschicksale.

Freut sich, wenn er helfen kann: Stadtarchivar Christian Lopau. Bild: Frank Keil

RATZEBURG taz | Bevor er den Kaffee in die Tassen gießt, muss Herr Lopau erstmal erzählen, was ihm gerade passiert ist. Also – da erreicht ihn aus Frankreich eine Nachricht, dass man dort auf die sterblichen Überreste eines deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gestoßen sei: ein Soldat aus dem lauenburgischen Ratzeburg, wie dessen Kennmarke ergeben habe. Nun liegt dort ganz in der Nähe auf einem Friedhof bereits ein Soldat aus Ratzeburg beerdigt. Anfrage daher: Könnte es sein, dass die beiden vielleicht verwandt sind? Handelt es sich um Brüder? Wenn ja, dann könnte man den gefundenen Soldaten zu dem schon beerdigten Soldaten mit ins Grab legen.

Spekulieren geht nicht

Leider hat Christian Lopau, Stadtarchivar von Ratzeburg, in seinen Unterlagen keine entsprechenden Hinweise finden können: Zwar hatte jener beerdigte Soldat tatsächlich Brüder, mehrere sogar, wie dessen Familienstammdaten ergeben hätten. Aber wo welcher Bruder damals im Krieg war und ob überhaupt – das ließe sich beim besten Willen nicht sagen. „Und man muss ja genau sein“, sagt Herr Lopau. Spekulieren, das sei nicht sein Handwerkszeug.

Christian Lopau residiert in einem strahlend weißen Bau auf der Ratzeburger Insel, gleich neben dem Rathaus. „Demolierung“ heißt die Straße, was erstmal ulkig klingt, aber nichts anderes als den Abriss der dortigen Festung während der Franzosenzeit benennt.

Betritt man die Archivräume, wechselt man die Welt: Es riecht nach Bücherstaub, die Luft ist sehr trocken, man hört förmlich das vorsichtige Umblättern von brüchigem Papier schwerer Folianten und im selben Moment steht die Zeit still, damit man sie untersuchen kann. Und da sitzt er hinter seinem Bildschirm, durchaus überschaubare Stapel an Büchern, Broschüren und Unterlagen links und rechts neben sich.

Er kommt hier aus dem Kreis, sei hier verwurzelt. Aufgewachsen in einem Dorf bei Büchen, Schule in Mölln, dann in Ratzeburg, Abitur. Auch zum Studieren ging es nicht allzu weit weg – nach Hamburg; Literatur und Geschichte wurden es.

Ein Schwerpunkt: filmische Umsetzungen von Literatur über den Ersten Weltkrieg, er macht seinen Magister, will schreiben, wünscht sich eine Anstellung in einem Verlag, aber nichts will richtig klappen. Eher halbherzig setzt er sich an eine Doktorarbeit, hadert mit gelegentlichen Uni-Jobs, wohin soll das ganze führen? Bis er eines Tages von einer halben Stelle im Archiv in Mölln liest: nur eine Aufwandsentschädigung gäbe es, dafür freie Zeiteinteilung. „Ich hab gedacht: Drei Tage dieser Job, dann hast du vier Tage für deine wissenschaftliche Forschung, das passt doch“, sagt Lopau damals und heute.

Und merkt, was für einen Spaß das Arbeiten im Archiv ihm bald macht. Viel mehr als an der Uni. ’Uni, das war’s‘, sagt er schließlich, erst recht, als das Archiv aus Mölln und das Archiv aus Ratzeburg in eine Archivgemeinschaft zusammengeführt werden sollen. Nun hat er eine ganze Stelle, man wird damit nicht reich, aber es rechnet sich.

„Ich habe diesen Schritt weg von der Uni nie bereut“, sagt er. „Es ist eine wunderbare Arbeit. Mal sehr ruhig, dann sitze ich hier tagelang allein, und dann wieder bin ich ständig unterwegs und nur unter Menschen.“

Zugang zur Gegenwart

Steht ein Stadtjubiläum zu feiern an, sorgt er für die geschichtlich korrekten Hintergründe. Er rekonstruiert Familienlebensläufe, recherchiert für Stolpersteine, er wertet die Bauzeichnungen einzelner Gebäude aus, und er ist auch pädagogisch tätig: Gerade betreut er ein Schülerprojekt zum Ersten Weltkrieg.

Auch einen Zugang zur Gegenwart gibt es, wie im letzten Herbst, als der bundesweite „Tag des Flüchtlings“ vor der Tür stand: Vor Ort organisiert von verschiedenen, meist kirchlichen Initiativen, mit der klaren Intention, Verständnis für die Flüchtlinge zu wecken, die da dieser Tage aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan auch nach Ratzeburg kamen. Lopaus Beitrag: zu schauen, was für Fluchterfahrungen aus anderen Jahrhunderten sich in seinem Archiv finden ließen, die man möglicherweise den heutigen Fluchterlebnissen von Menschen gegenüberstellen könnte. Naheliegend ist es, Fluchterfahrungen vor und nach dem Kriegsende 1945 zu betrachten: „Wie sind wir damals mit Menschen umgegangen, die auf der Flucht waren und die zu uns kamen? Das zu erfahren, ist doch spannend.“

Dazu hat er ein persönliches Erlebnis, vor einigen Jahren, ein Jahrestag des Kriegsendes: „Es war ein Gesprächsabend in der Vorstadt, in der viele ehemalige Flüchtlinge aus den Ostgebieten heute leben. Die erzählten, wie man sie damals aufgenommen hat: ’Die haben uns hier wie Dreck behandelt.‘ Das hat mir die Augen geöffnet.“

Erfolgreiche Integration

Lopau zählt nüchtern auf: „Ratzeburg hatte vor 1945 6.500 Einwohner – danach waren es 13.000. Genauso war es in Mölln und auf den umliegenden Dörfern auch.“ Trotz aller Spannungen und langer Vorbehalte gegen die Fremden aus dem Osten habe am Ende die Integration geklappt. „Im Vergleich zu damals, sind wir doch heute in einer komfortablen Situation“, sagt Lopau. „Wir hätten es leicht, zu teilen.“

Lopau geht kurz zurück in die Geschichte: in den Dreißigjährigen Krieg, als sich die Menschen aus dem geplünderten und völlig zerstörten Magdeburg nach Ratzeburg retteten. Erwähnt die Wirren der napoleonischen Kriege, als sich immer wieder Einzelne aus den sich auflösenden Heeren absetzten und hier eine neue Zukunft suchten. Nicht zuletzt wäre da Ratzeburg selbst: 1693 wird es von dänischen Truppen beschossen, ganze fünf Häuser und der Dom bleiben stehen, die Menschen hausen in den Ruinen – und sie flüchten etwa nach Lübeck und sind heilfroh, dass man sie dort aufnimmt, bis der Wiederaufbau der Stadt beginnt. „Man muss den Menschen heute sagen: Ohne eine Zuwanderung, ohne Migration, ohne Fachkräfte, die sagen: ’Wir gehen von zu Hause weg‘, entwickelt sich nichts“, sagt Lopau.

Gewiss, es gäbe noch immer ausländerfeindliche Töne, die einem Angst machten. Doch auch hier helfe der Blick zurück, um zu würdigen, was schon passiert sei. So ging es ihm, als er in Vorbereitung der Gedenkveranstaltungen zum zwanzigsten Jahrestag der Brandanschläge im benachbarten Mölln vom 23. November 1992 in sein Archiv stieg: „Ich habe mir die damalige Berichterstattung aus dem halben Jahr davor angeschaut, also vom Sommer bis zum November. Wenn ich da nachlese, was damals aus der Kommunalpolitik und den Gemeinden heraus zu hören war, wie da von ’Asylbetrug‘ und ’Asylantenschwemme‘ gesprochen wurde und wie dort ein Bedrohungspotenzial aufgebaut wurde – ja, ist es eigentlich ein Wunder, was dann an Gewaltausbrüchen passiert ist?“

Solche Stimmen seien seiner Einschätzung nach heute nicht mehr möglich. Und er verweist auf den runden Tisch der Stadt Ratzeburg, der sich gegründet habe, um den heutigen Flüchtlingen zu helfen, und auf welch breite Unterstützung der unter den Bürgern und in der Politik zählen könne.

Genug des Blicks zurück? Christian Lopau, der Geschichtsforscher, der Ratzeburger, hat noch eine Geschichte auf Lager, die wiederum vom Spannungsfeld der harten Fakten und dem Fingerspitzengefühl, dem siebten Sinn, aber auch dem Engagement erzählt, das ein Stadtarchivar haben muss, will er das Leben der Menschen nicht nur erforschen, sondern bei aller professionellen Distanz auch auf seine ganz eigene Weise begleiten: Als viele der ehemaligen, ins Deutsche Reich verschleppten Zwangsarbeiter ab den 1980er Jahren ins Rentenalter kamen, benötigten sie Nachweise, wo und wann genau sie zur Arbeit gezwungen worden waren: „Ich bekam eine Anfrage von einem Mann, der wusste nicht mehr den Namen des Bauern, bei dem er arbeiten musste. Und er wusste auch nicht mehr den Namen des Dorfes, in dem das gewesen war. Aber er konnte beschreiben, wie das Dorf ausgesehen hat; dass es dort zwei kleinere Seen oder größere Teiche gegeben habe, wo das Kriegerdenkmal stand und dass von dort aus vier Wege abgingen.

Hilfe vor Ort

Der Mann konnte eine ungefähre Streckenangabe machen, wie weit es nach Mölln wäre. Und was habe ich gemacht? Ich bin an einem Nachmittag mit dem Auto rumgefahren, hab mir die Dörfer auf seine Beschreibung hin angeguckt – und ich hab das Dorf und den Hof gefunden und wir konnten ihm ganz amtlich bescheinigen, dass er hier gewesen ist.“

Lopau nimmt einen letzten Schluck Kaffee und strahlt übers Gesicht: „Das sind Höhepunkte, das sind Glanzpunkte meiner Arbeit – und ich sage dann immer zu mir: Ach, schön, dass ich das miterleben kann.“

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