Staatskrise in Venezuela: Parlament kriegt Macht zurück
Präsident Maduro macht Druck auf den Gerichtshof, der seine Entscheidung überprüft und einkassiert. Das von der Opposition dominierte Parlament hat seine Rechte wieder.
Damit bekommt das von der Opposition dominierte Parlament seine Kompetenzen zurück. Allerdings hatte Maduro zuletzt ohnehin mit Dekreten regiert – und das Gericht viele Parlamentsentscheidungen annulliert.
Der ungewöhnliche Vorgang eines Zurückruderns zeugt auch von großer Uneinigkeit im Machtapparat der seit 1999 regierenden Sozialisten. Die Opposition hatte von einem „Staatsstreich“ gesprochen, die Urteile Nr. 155 und Nr. 156 würden den Weg in Richtung Diktatur ebnen. Für Samstag waren trotz der neuen Wende Massendemonstrationen gegen die jüngste Eskalation geplant.
Das Land mit den größten Ölreserven der Welt ist unter Maduro in eine dramatische Versorgungskrise gerutscht. Die Inflation ist die höchste der Welt. Maduro macht für den Mangel an Lebensmitteln, Brot und Medikamenten einen „Wirtschaftskrieg“ des Auslands verantwortlich und bat zuletzt sogar die Vereinten Nationen um die Lieferung von Medizin. Wegen der Geldentwertung des Bolívar können in Dollar und Euro abgerechnete Importe kaum noch bezahlt werden.
Zweidrittel-Mehrheit der Opposition
Die Opposition hatte die Parlamentswahl im Dezember 2015 mit Zweidrittel-Mehrheit gewonnen. Mit Hilfe des von den Sozialisten kontrollierten Gerichtshofs wurden Parlamentsentscheidungen aber häufig annulliert und Maduro regierte vermehrt mit Notstandsdekreten.
Der Sicherheitsrat betonte nach der Sitzung am Samstagmorgen, Ziel sei es, die „institutionelle Stabilität und das Gleichgewicht der staatlichen Gewalten“ aufrechtzuerhalten. Dies war auch eine Reaktion auf die massive Kritik der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz, die das Urteil öffentlich als „Verfassungsbruch“ angeprangert hatte.
„Als oberste Repräsentantin des Ministerio Público, im Namen von 10.000 Mitarbeitern und fast 3.000 Staatsanwälten, die in unabhängiger Weise ihre Aufgaben erfüllen, rufe ich zum Nachdenken auf, damit der demokratische Weg gewählt wird, dass die Verfassung respektiert wird“, hatte Ortega Díaz betont.
Der Gerichtshof hatte am Mittwoch mit Urteil 156 der Nationalversammlung ihre Kompetenzen entzogen und auf sich selbst übertragen. Außerdem hob das Gericht einen Tag zuvor bereits die Immunität der Abgeordneten auf. Nun wurden diese beiden scharf kritisierten Urteile wieder kassiert.
Streit zwischen Gerichtshof und Parlament
Der Gerichtshof wird von einem vorbestraften Sozialisten geführt. Das Gericht warf dem Parlament Respektlosigkeit und unzureichende Zusammenarbeit mit den anderen Staatsgewalten vor. Das Parlament nannte das einen „Staatsstreich“ und sieht Maduro als Treiber dabei. Parlamentspräsident Julio Borges warnte vor einer Diktatur Maduros.
Als Folge des Urteils hätte der auch in eigenen Reihen umstrittene Nachfolger des 2013 verstorbenen Hugo Chávez eine enorme Machtfülle bekommen. Es ist aber unklar, ob zum Beispiel das Militär noch komplett hinter ihm steht. Das Land verfügt über die größten Ölreserven der Welt und ist eine wichtige Regionalmacht in Südamerika. Zunächst hatte der 54-Jährige das Urteil verteidigt: „Die Revolution wird sich konsolidieren.“ Er bezeichnete die Opposition als „rechte Putschisten“, die hätten schon Champagner kaltgestellt.
Für die deutsche Bundesregierung hatte Regierungssprecher Steffen Seibert scharfe Kritik geäußert: „Es ist unerträglich, wie Präsident Maduro die Bevölkerung seines Landes zur Geisel seiner eigenen Machtambitionen macht.“ Peru berief seinen Botschafter ab, Kolumbien und Chile beorderten ihre Vertreter zu Beratungen in die Heimat.
Unterdessen kam es in Caracas zu Repressalien und Festnahmen bei Protesten. Eine Rundfunkjournalistin wurde von bewaffneten Polizisten angegriffen, zu Boden geworfen und weggeschleppt. Sie wollte vor dem Gerichtshof über die Lage berichten. Die Venezolanerin arbeitet für den kolumbianischen Sender Caracol. Die Regierung in Bogotá verurteilte den Angriff scharf. In der Rangliste der Pressefreiheit lag Venezuela 2016 auf Platz 139 von 180 – im Februar wurde wegen missliebiger Berichte der US-Sender CNN abgeschaltet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten