■ Urteil im Prozeß gegen Verantwortliche der DDR-Grenze: Staatskriminelles System
Das Urteil ist gesprochen. Der Schießbefehl gegen Flüchtlinge aus der DDR ist als Totschlag im schweren Fall verurteilt worden, wie das Strafmaß zeigt. Alle Versuche, die Verantwortlichkeit auf die Sowjetunion oder die Umstände des Kalten Krieges allgemein abzuschieben, sind vom Gericht verworfen worden. Mit Recht! Man kann nicht jahrzehntelang von staatlicher Souveränität als Rechtsbasis für Absperrmaßnahmen sprechen, die auch mit Todesschüssen durchgesetzt worden sind, um im nachhinein diese Souveränität an angeblich übergeordnete Instanzen zurückzudelegieren und sich so aus der zuvor reklamierten Verantwortung stehlen.
Das Urteil war ein strafrechtliches. Es erging gegen Totschlag, versuchten Totschlag, Beihilfe zum Totschlag und bezieht sich somit in jedem Fall auf persönliche Verantwortlichkeit. Aber dieses Urteil war zugleich das endgültige Urteil über das Grenzregime der Deutschen Demokratischen Republik überhaupt. Auch in diesem Falle haben sich alle Behauptungen über die angebliche völkerrechtliche Normalität dieses Grenzregimes nicht durchzusetzen vermocht. Eine Grenze, deren Aufrechterhaltung mit mehr als 500 Erschießungen beziehungsweise Tötungen erkauft werden muß, ist keine normale Staatsgrenze. Die Grenzanlagen forderten nicht nur Tote, sie richteten sich auch offenkundig gegen die DDR-Bevölkerung: ein historisch einmaliger Akt der Freiheitsberaubung, der sich nunmehr selbst seiner moralischen und politischen Unhaltbarkeit überführt hat.
Sollte es immer noch Leute geben, die den Wortstreit über die Worte „Schießbefehl“ und „Schußwaffengebrauchsbestimmung“ fortführen möchten? Nicht daß mittlerweile entdeckt wurde, daß auch Erich Mielke das Wort „Schießbefehl“ gebrauchte, ist entscheidend.
Ein ganzes Befehlssystem hat sich als ein System der Staatskriminalität erwiesen. Daraus müssen sich auch Schlußfolgerungen für den Politbüroprozeß ergeben. Aber nicht nur das. Die Demokratie in unserem Lande und die sie tragende Zivilgesellschaft muß die öffentliche Gewissenserforschung so weit treiben, bis ein universeller Konsens gefunden wird, wie die Unantastbarkeit der Menschenwürde, nicht nur durch die Verfassung, sondern durch die Willensbildung aller BürgerInnen geschützt werden kann. Wolfgang Ullmann
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