Sportlicher Selbstversuch: Der Moment ist groß

Mit rund 40.000 laufenden Leidensgenossen 42 Kilometer quer durch die Stadt: Das bedeutet innerer Psychokrieg, Doping mit Powergels - und überwältigende Stimmung.

Nicht nur die 40.000 Läufer waren am Sonntag unterwegs. Bild: dpa

6.30 Uhr Frühstück mit Vollkornbrot, um noch ein paar Reserven in den Kohlenhydratspeicher zu packen. Danach kurzer Wettercheck auf dem Balkon: klare, angenehme Luft und wolkenfreier Himmel. Ich bin etwas nervös, denn ich laufe den Berlin-Marathon zum ersten Mal.

7 Uhr Ich schwinge mich aufs Rad und fahre in Richtung Tiergarten. Die Anzahl der Träger weißer Beutel nimmt auf dem Weg rapide zu – an denen erkennt man die laufenden Leidensgenossen. Am Kottbusser Tor kreuze ich die Strecke, auf der ich später rennen soll. Der Verpflegungsstand wird aufgebaut, zwei Paletten Bananen werden geliefert. Gut so.

7.30 Uhr Tiergarten. Es herrscht dichtes Gedränge. 40.987 Menschen sollen sich hier heute rumtreiben. Gut 40.000 Meter, gut 40.000 Gegner – ganz schön viel für einen Tag, denke ich. Die Sonne geht langsam auf, es sieht nach einem richtig guten Lauftag aus.

8 Uhr Auf dem Rasen vor dem Reichstagsgebäude ziehe ich mich um. Knalliges Türkis prägt das Gesamtbild: Die Läufer haben sich in Folien dieses Farbtons eingewickelt. Muskelöle, Powergels und die Banane davor machen die Runde. Vor den Toiletten herrscht Hochbetrieb, auch in den Büschen sind die guten Plätze umkämpft. Zum Warmlaufen bleibt kaum Zeit, vor allem: kaum Platz. Die Beine fühlen sich ganz gut an – das will ich ihnen auch geraten haben.

9 Uhr Startschuss. Nun sind die Temperaturen richtig läuferfreundlich. Man wünscht sich gegenseitig alles Gute, als stünde Schreckliches bevor. Los geht’s! Die ersten paar Kilometer auf der Straße des 17. Juni versuche ich, ein gutes Tempo zu finden. Und niemanden umzurennen oder umgerannt zu werden.

9.45 Uhr Die erste Schleife ist geschafft, wir sind auf der Torstraße. Gut zehn Kilometer sind gelaufen. „Das Ganze einfach noch viermal“, sagt ein Madrilene neben mir, „sollte kein Problem sein!“ Am Streckenrand feuern die Dänen lautstark an – sie liegen in punkto Läufersupport eindeutig vorn. Ab Kilometer 11 sehe ich die ersten bekannten Gesichter am Rand. „Das sieht ja noch ganz gut aus“, sagt ein Freund. Auf dem Kottbusser Damm geht es fast vor der eigenen Haustür vorbei. Marathon in der eigenen Stadt ist super, Heimvorteil und so.

10.25 Uhr Auf der Gneisenaustraße wird eine Balkonparty gefeiert, die Musik pusht noch mal ein bisschen. Ich mache mir Sorgen um das schnelle Tempo. Wenn sich das mal nicht böse rächt. Ein paar Äpfel reinschieben, dann sollte es gehen.

11 Uhr Wir sind bei Kilometer 30, Hohenzollerndamm. Gut zwei Stunden sind gelaufen. Geht jetzt der innere Psychokrieg los? Tempo halten, solange es geht, versuche ich mir zu sagen. Schrittfrequenz beibehalten, du hast doch schon Dreiviertel geschafft, ist doch gar nicht so schlimm, einfach weitermachen! Powergels werden gereicht, eine Zucker- und Koffeinration für uns Läufer.

11.35 Uhr Zwischen Kilometer 36 und 40 sagen die Oberschenkel aber schon, dass sie nicht gutheißen, was ich da mache. Dafür ist die Stimmung spätestens ab der Leipziger Straße überwältigend. Manchmal feuern einen wildfremde Menschen mit Namen an, weil sie den unter der Startnummer gelesen haben. Das hilft gerade hier, wo es am nötigsten ist.

11.53 Uhr Zieleinlauf. Auf dem letzten Kilometer kann man es wieder einfach nur genießen. Die Leute auf dem Pariser Platz machen einen Lärm wie im Fußballstadion. Der Moment ist groß. Und dann klappt es auch noch zum ersten Mal, unter drei Stunden zu bleiben: 2:53:12 sind es am Ende. Ich bin topzufrieden.

12.15 Uhr Hinter der Ziellinie. Ich wanke durch die Gegend, trinke das obligatorische alkfreie Weizen danach. Es herrscht reger Zeitenaustausch. Ich gehe zur Massage – was eine Wohltat! Kurze Plauderei mit den Physiotherapeutinnen, dann fort.

13 Uhr Die Stadt teilt sich in humpelnde und nicht-humpelnde Menschen. Ich reihe mich unter den Humpelnden ein. Es war ein Tag, an dem alles lief – und alles gut lief. Er war 42,195 Kilometer länger als die anderen Tage.

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