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Spielsucht in Las VegasIn der Höllenmaschine

In Las Vegas leben rund 120.000 Spielsüchtige. Eine davon war Liz Neubauer. Sie war dem Kitzel erlegen, einmal den Jackpot zu knacken. Aber sie hat es geschafft.

Bang, Bang: Las Vegas. Bild: ap

LAS VEGAS taz Im Palace Station ist es so dunkel, dass man die Farben des rot-braunen Teppichs kaum erkennt. Aber der hat eh seine besten Tage hinter sich, vom Glanz der prachtvollen Casinos im Herzen von Las Vegas ist hier nicht viel zu sehen. Dumpf tönt aus den Boxen der Singsang von Billy Joel, der im Surren und Rattern der Spielautomaten untergeht. Nahe einem Ausgang leuchten acht Videopoker-Automaten. Zwei Gestalten kleben an den Maschinen. Auch Liz Neubauer hat hier früher gesessen, viel zu oft.

ZOCKERZWANG

Spielsucht wird diagnostisch unter abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle gefasst. Das exzessive Spielen ist oftmals mit Gedanken verbunden, die um besonders erfolgversprechende Spieltechniken bzw. als erfolgsträchtige angesehene Methoden der Geldbeschaffung kreisen. Versuche, diesem Drang zu widerstehen, scheitern. Das Spielen selbst dient unter psychologischen Aspekten dazu, Ängste, Depressionen oder Schuldgefühle zu kompensieren.

Der für die Abhängigkeitsentwicklung notwendige positive Aspekt stellt sich durch biochemische Veränderungen im Gehirn ein, die durch das exzessive Spielen verursacht werden. Im Verlauf der Erkrankung verdrängt das Spielen zunehmend andere Formen der Problembewältigung. Zu finanziellen Probelmen tritt oft auch die soziale Isolation hinzu. In Deutschland gibt es laut Hochrechnungen zwischen 103.000 und 265.000 Spielsüchtige. Im Durchschnitt verspielen suchtkranke Zocker 20.000 Euro pro Jahr.

An diesem Vormittag sitzt die 70-Jährige auf dem schwarzen Ledersofa im Büro von Doktor Hunter. Sie fährt sich nervös durch ihre kurzen, rotblond gefärbten Haare, hat tiefe Augenringe und rutscht auf der Sofasitzfläche vor und zurück. Ihr geht es heute gar nicht gut, sagt sie. Wenn Liz mit dem Schicksal hadert, wenn ihr das Leben wieder einmal übel mitgespielt hat, dann sucht sie das Problem Gambling Center auf. Ein Behandlungszentrum für Spielsüchtige, das nur 500 Meter vom Palace Station entfernt liegt. Liz ist eine Spielsüchtige, seit vielen Jahren "clean", aber sie ist und bleibt eine Spielsüchtige. Denn die Sucht verliert man nicht, man kann sie kontrollieren, doch nicht besiegen.

Die Sucht ist in Las Vegas allgegenwärtig, aber unsichtbar. Experten schätzen, dass rund 120.000 Spielsüchtige in der Stadt leben. Sie zocken inmitten der Touristenschar, sind bloßen Auges nicht zu erkennen und spielen sich in den Abgrund - der Konflikt einer Unterhaltungsmetropole: Spielspaß versus Spielsucht. Oder um es mit den Worten von Doktor Hunter auszudrücken: "social gambling versus compulsive gambling" - geselliges, gelegentliches Spielen auf der einen Seite, zwanghaftes Zocken auf der anderen. "Spielsüchtige überschreiten eine unsichtbare Grenze", sagt Liz. Sie weiß, "dass diese in Las Vegas unheimlich schnell überschritten ist".

Die Wüstenstadt im Bundesstaat Nevada ist die Stadt der gigantischen Casinos. Allein im Jahr 2006 spülte das Spiel mit dem Glück 8,2 Milliarden Dollar in die Kassen. Tendenz: weiter steigend. Schon am Flughafen funkeln die ersten einarmigen Banditen. Liz hat überall gespielt, in jeder freien Minute: "Ich wollte dem Druck des Lebens entfliehen."

Sie macht eine Pause, reibt ihre kleinen und geröteten Augen. Dann erzählt sie von ihrem Niedergang. 1983 sitzt sie zum ersten Mal vor einem Videopoker-Automaten: "Ich wollte nicht mehr Oma, Mutter oder Ehefrau sein. Ich wollte mal ich sein." Dann erzählt sie, dass sie schon morgens, noch bevor sie in einem Möbelgeschäft arbeiten ging, zockte. Irgendwann hängt sie auch in der Mittagspause am Automaten einer Waschanlage. Nach Feierabend taucht sie in die Casinos.

Liz verspielt ihren Lohn, ihr Erspartes, leiht sich dann Geld von Verwandten, das sie nie zurückzahlen wird. Manchmal habe sie schon realisiert, dass sie süchtig ist. Nie, sagt sie, war sie stark genug aufzuhören. Am 27. März 1990 beschloss Liz Neubauer, ihr Leben zu beenden. Sie schaut zur Decke im Büro von Doktor Hunter und sagt: "Zum Glück hatte jemand da oben noch anderes mit mir vor." Doktor Hunter nickt.

Manchmal wirken der Doc und Liz wie ein altes Ehepaar. "Sie war wirklich fertig, als sie damals zu mir kam. Sie sieht heute etwas besser aus als an jenem 28. März 1990", erzählt Hunter und zwinkert ihr zu. "Er war damals schön und rothaarig - nicht fett und grau wie heute", schießt Liz schroff zurück. Doktor Hunter ist 51 Jahre alt, er sieht älter aus. Als Liz für kurze Zeit sein Büro verlässt, sagt er: "Sie war wirklich ein Wrack. Sie war total isoliert. Spielen und heulen - mehr gab es nicht mehr in ihrem Leben."

Hunter ist eine Koryphäe. Er gründete 1986 mit Robert Custer das Problem Gambling Center. "Spielsucht ist keine moralische Schwäche, sondern eine Suchtkrankheit so wie Alkoholismus. Diese vor 30 Jahren noch verpönte Tatsache ist mittlerweile erwiesen", sagt er. Die Abhängigkeit entstehe dabei im Gehirn, ähnlich wie bei Drogen. Der Botenstoff Dopamin werde ausgestoßen, löse Glücksgefühle aus. Und das Gehirn verlange immer größere Mengen. "Die Süchtigen stumpfen ab, nehmen andere freudige Erlebnisse nicht mehr wahr. Sie sind am Ende total ausgelaugt. Das werden Sie nachher noch sehen", sagt Hunter.

"Ich habe weder Farben noch Gesichter wahrgenommen, nur noch einen grauen Brei", wird Liz später beschreiben. Der graue Brei ist für Liz eine Flucht vor den Sorgen des Alltags: "Meine Eltern haben mir oft das Gefühl gegeben, ich sei nicht gut genug." In der Ehe verstärkt sich dieses Gefühl. Als Liz' Enkelkind geboren wird, will ihr Mann keinen Kontakt zu dem Kind haben, da es einer Mischehe entstammt. "Das war furchtbar, aber ich habe meinen Mann trotzdem geliebt", sagt Liz. Sie beginnt zu weinen, fängt sich Sekunden später wieder. Liz Neubauers Emotionen wechseln oft, fast so oft wie die Spielkarten beim Video-Poker.

Ihr Mann ist vor einigen Tagen gestorben. Sie fürchtet einen Rückfall. Doktor Hunter wird sie in die "Vormittagsgruppe" begleiten. Zum erste Mal Gruppentherapie.

In einem großen Raum mit grünem Teppich sind zwanzig Metallstühle im Halbkreis angeordnet. Nach und nach trudeln die Süchtigen ein, zwölf kommen heute. Hunter und sein Kollege Howie begrüßen sie. Ein unspektakuläres Treffen, ähnlichen denen der Anonymen Alkoholiker. Es gibt Muffins und eine Vorstellungsrunde: "Hi, ich bin Maggie, ich bin eine Spielsüchtige." - "Hi Maggie", antwortet die Gruppe. "Ich habe das letzte Mal vor drei Monaten gespielt, meine letzte Sitzung war vorgestern", sagt Maggie und strahlt: "Momentan geht es mir richtig gut. Ich werde es schaffen. Yeah."

Der Nächste. Er murmelt: "Ich bin Nick, ich bin ein Spielsüchtiger. Ich habe das letzte Mal vorgestern gezockt". Nun versteht man, was Hunter meint: Die Leute sind tatsächlich wie ausgesaugt, wenn sie zu ihm kommen. Nicks Gesicht ist aschfahl, er hat seine rote Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, er nuschelt: "Ich fühle mich richtig scheiße." Hunter macht ihm Mut: "Alle hier haben sich so gefühlt. Doch das Leben kommt zurück. Plötzlich freut man sich wieder über etwas Normales, über einen tollen Kaffee oder so." - "Ja genau, ja, das stimmt", ruft Maggie.

Dann ist Liz dran. Sie schluckt, schaut auf den Boden und spricht: "Es ist so, mein Mann, also mein Mann ist gestorben. Und im Moment weiß ich einfach nicht weiter." Sie schluchzt, erzählt dann vom alten Selbstmordplan: Am 27. März 1990 will sie in die Wüste fahren und hinter einem Felsen verdursten, die Spielsucht hat sie zerfressen. Sie sitzt schon im Auto, doch der Tank ist leer, sie hat kein Geld. Sie nennt es heute göttliche Fügung. Man könnte auch sagen, Liz Neubauer war so fertig und blank, dass sie ihren Freitod nicht organisieren konnte. Sie rennt zu ihrer Tochter und bricht heulend zusammen. Die Tochter stellt den Kontakt zum Problem Gambling Center her. "Und jetzt sitze ich hier und habe seit 18 Jahren nicht mehr gespielt. Und der da" - sie zeigt auf Doktor Hunter -, "der da hat mich gerettet." Einige aus der Gruppe applaudieren. Kaffeepause.

Dann spricht Hunter: "Ihr könnt davon ausgehen, dass ihr der Spielindustrie egal seid." Er liefert eine leicht schiefe Metapher: Die Casinos, das sind die Fischer. Sie fischen ohne Verantwortung. Sie fangen viele Fische, aber auch Delfine. Und die Delfine, das sind die Süchtigen dieser Gruppe. Hunter schaut in die Runde, die Delfine nicken. Solche Bilder geben Kraft. Hunter fordert: "Es muss alles getan werden, um die Gefahr der Spielsucht zu bekämpfen."

Tatsächlich wird mittlerweile etwas getan, wenn auch oft sporadisch. Schilder in den Casinos, meist unprominent platziert, offerieren eine Telefonhotline für Süchtige. Zehn Jahre hat Hunter gekämpft, bis der Bundesstaat Nevada ihm finanzielle Unterstützung zusagte. An vielen Orten liegt die Broschüre mit dem Titel "When the fun stops" aus.

Hinter der Broschüre steckt der Nevada Council on Problem Gambling, eine Organisation, die mit Gamblers Anonymous kooperiert - den Anonymen Spielern. Diese haben in ganz Amerika Selbsthilfegruppen, die ersten schon seit 1957. In Las Vegas tagen wöchentlich rund hundert Gruppen. Sie arbeiten ähnlich wie die Anonymen Alkoholiker und haben ein 12-Stufen-Programm. Erster Schritt: die Einsicht, dass man gegen das Zocken machtlos geworden ist. Die weiteren Schritte sind mitunter religiös angehaucht, auch Gebete werden empfohlen.

Dann gibt es noch die Einzelkämpfer. Am bunten Strip steht Frank, 42 Jahre alt, hängende Schultern, blaue Jeans, grün-weißes Flanellhemd. Er nennt sich "Prediger aus Liebe" und warnt vor dem Glücksspiel: "Besonders die Spielsüchtigen verstoßen gegen einige der Zehn Gebote. Sie beten ihre Automaten an wie einen Ersatzgott. Sie sind nicht mit dem zufrieden, was unser Gott ihnen gegeben hat, sie wollen mehr." Spielsüchtige sollten Las Vegas verlassen, um ihre Seelen zu heilen, empfiehlt er.

Liz Neubauer hat Las Vegas nicht verlassen. Die Stadt und sie haben sich arrangiert. So geht sie nur noch in Restaurants, in denen keine Automaten stehen. Einmal wollte ein Fernsehteam mit ihr vor einem Spielautomaten ein Interview aufzeichnen. Liz hat vehement abgelehnt: "Wenn ich noch einmal an eine solche Höllenmaschine trete, bin ich tot."

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