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Spielfilmdebüt „Mit 20 wirst du sterben“Leben im Bannspruch der Derwische

Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 wirst du sterben“ spielt in einer archaischen Religionsgemeinschaft. Zugleich ist es der Neubeginn sudanesischen Kinos.

Die Ohnmacht eines Derwisches besiegelt das Schicksal eines Jungen Foto: Missing Films

Das Kind, ein etwa zehnjähriger Junge, legt sein Ohr auf die Brust der schlafenden Mutter und lauscht ihrem leise pochenden Herzschlag. Was man hört, könnte auch sein eigener Herzton sein oder das Echo der Menschen, die im Kino zuschauen.

Muzala (Mustafa Shehata), der Junge im Mittelpunkt von Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 wirst du sterben“, lebt in einer engen, auf wesentliche Zeichen konzentrierten Welt: Da ist das Bett, das er als Kind mit seiner Mutter Sakina (Islam Mubarak) teilt, weil der Vater die Familie verlassen hat, da ist die Mauer um das Ziegelhaus, hinter der das Nil-Ufer unerreichbar scheint, solange die Mutter ihn zu Hause festhält.

Da ist der lange dunkle Flur, in dem Muzala im gleißenden Gegenlicht wie eine Chimäre wirkt, und da sind die düsteren Kammerwände, wo die Mutter mit Strichen festhält, wie viel Zeit dem Sohn noch bleibt.

Muzala ist ein „lebender Toter“ – so sagt es einer, der auf sein Schicksal Einfluss nehmen wird, ein Außenseiter, der über viel subversive Distanz zu der traditionellen Dorfgemeinschaft verfügt und das Schicksal des Heranwachsenden nicht als gottgegeben hinnimmt. Als Neugeborenes sollte Muzala den Segen der Sufi-Geistlichen empfangen, zu deren Versammlung die Eltern in die sudanesische Wüste pilgern.

Der Film

„Mit 20 wirst du sterben“. Regie: Amjad Abu Alala. Mit Mustafa Shehata, Islam Mubarak u. a. Sudan/Frankreich/Ägypten/Deutschland/Norwegen/Katar 2019, 105 Min.

Einer der Derwische aus der Begleitung des Scheichs beginnt in Trance zu zählen und fällt bei der Zahl zwanzig in Ohnmacht. Die Gläubigen verstummen entsetzt, ein archaischer Bannspruch ist damit gesprochen und der Scheich bekräftigt das Verdikt: Das Kind wird sein Leben lang auf der Suche nach Gott sein und mit zwanzig Jahren sterben.

Ist Rebellion möglich?

Wie lebt es sich mit diesem Todesurteil? Ist Rebellion gegen den Fluch möglich? Gibt es Erlösung, indem die Derwische „sich entschuldigen“, wie die Mutter es erträumt? Einmal, gegen Ende, bewegt sich eine lautlose Bootsprozession grün und rot gewandeter Derwische auf dem Nil majestätisch an Muzala vorüber, hochmütige Blicke treffen den Eingeschüchterten, doch von einer Botschaft, die den Fluch zurücknimmt, kann keine Rede sein.

Amjad Abu Alala kritisiert mit keinem Wort den mystischen Glauben seines Herkunftslandes Sudan. Sein Film setzt allein Akzente auf die innere Entwicklung seines Protagonisten, auf das Hoch und Tief einer subjektiven Coming-of-Age-Geschichte, die zugleich ein Schritt zu lebensrettender Emanzipation bedeuten könnte.

Hier mag ein Schlüssel liegen, der Alalas Drehbuch nach einer Kurzgeschichte des sudanesisch-ägyptischen Schriftstellers Hammour Ziada in einer schwindelerregenden Prozedur von Drehbuch-Labs, Projektpräsentationen und Koproduktionsmärkten als afrikanisch-arabisch-europäisches Gesamtprojekt verwirklichen half.

Ähnlich einer Bewährungsprobe im Märchen kreist „Mit 20 wirst du sterben“ um die Frage, ob sich das Opfer des skurrilen Schicksalsschlags vollkommen demütig in den Lauf der Dinge ergibt und sich spirituell auf den vorhergesagten Tod vorbereitet oder aber ein „Leben vor dem Tod“ beginnt, „Sünde“ genannte Erfahrungen inbegriffen.

Hinter der Religion lockt das Versprechen nach Freiheit

„The more local, the more international“, charakterisierte Vincenzo Bugno, der Leiter des kofinanzierenden World Cinema Fund der Berlinale, die Fördermaxime für ein Projekt wie Amjad Abu Alalas Film im Gespräch mit Anke Leweke.

Hinter den ruhigen, gut kadrierten Bildern des verschachtelten sudanesischen Dorfs (Kamera: Sébastien Göpfert), in der Feinzeichnung des widersprüchlichen Figurenensembles und der Wucht der in Beigetönen leuchtenden Wüstenweite scheint ein modernes Thema auf, denn das Drama des sudanesischen Jungen tangiert die Trennlinien zwischen einer archaischen, von Geisterglauben und mystischem Sufismus geprägten Religionsgemeinschaft und den Versprechen nach subjektiver Entfaltung und Freiheit.

Geboren im Sudan, wuchs Amjad Abu Alala in Dubai auf. Mit seinem Spielfilmdebüt kehrte er 2019 in das Herkunftsland seiner Eltern, die Region Al-Dschasira zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil, zurück – im selben Jahr, in dem eine Revolution den dreißig Jahre herrschenden Diktator Omar al-Bashir absetzte und eine bis heute von Unruhen und massiver Verfolgung gekennzeichnete Militärregierung an die Macht kam.

„Mit 20 wirst du sterben“ ist den Opfern der Revolution gewidmet. Seine Auszeichnung als bester Debütfilm bei den Filmfestspielen in Venedig 2019 und der Auftritt als erster sudanesischer Spielfilm im Rennen um den Auslands-Oscar waren auch Zeichen der Aufmerksamkeit und Solidarität mit der Revolution, nicht zuletzt Zeichen der Unterstützung für die Abschaffung der Scharia und die Stärkung der Frauenrechte, die 2019 zeitweise im Sudan erreicht wurden und sich in Amjad Abu Alalas Frauenfiguren andeutungsweise spiegeln.

Mit der Liebe klappt es nicht

Das Nachbarmädchen Naima (Bunna Khalid) verkörpert seit der Kindheit Muzalas Vertraute. Als junge Frau versucht Naima stolz und selbstbewusst, den ängstlichen Freund von ihrer Liebe zu überzeugen. Begleitet von einem stummen behinderten Jungen, können sich beide am Fluss treffen, wo Naima offen von ihrem Traum erzählt, eine Familie mit ihm zu gründen. Doch er zögert so lange, bis sie sich mit einem anderen verlobt und er in Liebeskummer versinkt.

Eine Gegenfigur zu Naima lernt er im Haus von Suleiman (Mahmoud Maysara Elsaraj) kennen. Der ehemalige Kameramann und Abenteurer lebt mit der Sängerin und Prostituierten Set Alnessea (Amae Mustafa) zusammen, beide für Muzala Inbilder einer fremden Welt. Set Alnessea singt und trommelt beim Zaar-Fest, einem Besessenheitskult der Frauen des Dorfes, bei dem Muzalas Mutter ekstatisch ihre Gefühle aus sich heraustanzt.

(Leider sind die traditionellen afrikanischen Lieder des Films unübersetzt. So setzt sich in der Erinnerung der getragene, europäisch klingende Cello-Sound der Filmmusik des tunesischen Komponisten Amine Bouhafa fest, dessen Musik zum Beispiel auch „Timbuktu“ von Abderrahmane Sissako und „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ von Kaouther Ben Hania prägte).

Der Trinker Suleiman, den der Ladenbesitzer durch Muzalas Botengänge mit verbotenem „Aragi“ versorgt, macht den Jungen mit dem Kino bekannt, indem er ihm Filme aus Khartoum und Kairo unter anderem von Youssef Chahine vorführt – Szenen des liberalen urbanen Lebens in beiden Städten vor dem Sieg der Islamisten.

Der Bann bricht mit einer Vergewaltigung

Suleiman ist es, der Muzala ein weißes Papier und darauf verteilte Tintenspritzer vor Augen hält und ihm herausfordernd erklärt, dass nur die schwarzen Flecken das strahlende Weiß leuchten lassen. Beides steht für das Leben. Wie Muzala indes die Befreiung aus dem engen Korsett tugendhafter Existenz beginnt, macht deutlich, dass der „reine Tor“ die Lektion patriarchaler Gewalt gelernt hat, wenn er an seinem 20. Geburtstag „ein Mann“ werden will und Set Alnessea vergewaltigt.

Der Bann ist gebrochen, die Flucht aus der dörflichen Enge scheint vielleicht möglich, aber was kommt dann? Amjad Abu Alalas Film „Mit 20 wirst du sterben“ markiert so etwas wie den Beginn oder Neubeginn eines authentischen sudanesischen Kinos, indem er sich nicht auf pittoreske Schönheit und eine universell nachvollziehbare Geschichte beschränkt.

Das Happy End ist eine Frage der Fantasie. Indirekt verweist er jedoch auch auf die Gewalt gegen Frauen, die zur Strategie der kriegerischen Auseinandersetzungen in Ostafrika gehört.

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