Spielfilmdebüt „Aftersun“ im Kino: Wer beschützt hier wen?

Charlotte Wells’ „Aftersun“ erzählt von einem Sommerurlaub von Vater und Tochter. Die Erzählung hält Wells faszinierend in der Schwebe.

Calum (Paul Mescal, l) und Sophie (Frankie Corio) stehen vor einer grünen Gebirgslandschaft.

Calum (Paul Mescal, l) und Sophie (Frankie Corio) in „Aftersun“ Foto: A24/ap

Vater und Tochter sind nicht unbedingt das gängigste Gespann im Kino. Für Buddy-Movies eher ungeeignet, für eine Rivalenbeziehung à la Vater und Sohn oder Mutter und Tochter zu unterschiedlich. Dennoch machen sie sich gut zusammen auf der Leinwand, denn es schwebt viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, wie generell zwischen Eltern und Kindern, und das birgt solides Konfliktpotenzial.

Charlotte Wells’ Spielfilmdebüt „Aftersun“ wartet mit zwei charakterlich sehr verschiedenen, aber einnehmenden Prot­ago­nis­t*in­nen auf: mit einer scheinbar sorglosen, eher forschen Prä-Teenagerin und ihrem Vater, in dem viel Liebe für sie, aber auch eine Menge undefinierbarer Gefühle schlummern.

Sophie (Frankie Corio) ist 11 und kommt aus Edinburgh. Ihre Eltern leben getrennt, mit dem Vater Calum (Paul Mescal), der nach London gezogen ist, verbringt sie einen Sommerurlaub an der türkischen Riviera. So weit, so gewöhnlich. Doch an der Machart des Films ist nichts gewöhnlich, nicht zuletzt, weil er das Publikum in der Schwebe hält und von einem Abschied erzählt, den man im übertragenen oder buchstäblichen Sinne interpretieren kann.

Am Ende des Urlaubs winkt Sophie in Sommerkleidung am Flughafen ihrem Papa zu. Der sagt „I love you“, und sie antwortet mit derselben Formel. Das Bild ist körnig und verwackelt – aufgenommen mit einer Videokamera in den 1990er Jahren. Sie hält im Film während des Urlaubs bruchstückhafte Szenen fest, fungiert aber auch als Kommunikationsmittel, meist mit Sophie als Kamerafrau und Interviewerin. Manchmal bringt sie ihren Vater mit ihrer Filmerei und Fragerei in Verlegenheit.

Eine Zeit vor Handys und Smartphones

Die restlichen Bilder im Film entstammen offenbar Erinnerungen Sophies, die man 20 Jahre später kurz im Heute sieht. Sie deuten darauf hin, dass sie mit dem Abstand einer erwachsenen Frau versucht, Motivationen ihres damals gleichaltrigen Vaters nachzuvollziehen.

„Aftersun“. Regie: Charlotte Wells. Mit Paul Mescal, Frankie Corio u. a. USA/Vereinigtes Königreich 2022, 101 Min. Ab 15. 12. im Kino

In einer Zeit vor Handys und Smartphones filmt die private Kamera Augenblicke, deren Dimension sich erst im Laufe des Films herausstellen wird. Zunächst bedeutet die noch nicht vorhandene ständige Erreichbarkeit aber Freiheit. Der Mutter entrichtet Sophie bei Ankunft am Urlaubsort in einer roten Telefonkabine nur einen kurzen Gruß, während Calum noch einige ihrer Instruktionen entgegennimmt. Danach sind beide auf sich selbst gestellt in einem Ferienresort, wo man keine Einheimischen, dafür aber jede Menge Landsleute kennenlernt.

Sophie ist in einem etwas undankbaren Alter, ist kein Kind mehr, aber zu der britischen Jugendgang des Resorts gehört sie auch nicht richtig. Doch sie kommt zurecht. Zur Verblüffung der Großen spielt sie beim Billard alle an die Wand, und so entwickeln die älteren Jungs einen Beschützerinstinkt für sie und knutschen mit den größeren Mädels.

In einem gleichaltrigen Jungen findet Sophie zunächst einen Partner beim Arcade-Spielen, später erlebt sie mit ihm einen unspektakulären ersten Kuss. Frankie Corio spielt die junge Sophie mit einer charmanten Unbefangenheit, die mit der opaken Aura ihres nicht minder begabten Filmvaters Paul Mescal kontrastiert. Während Sophie Erfahrungen sammelt, scheint Calum zu stagnieren.

Hingabe und Verzweiflung

Warum werden die Erinnerungen an einen scheinbar banalen Urlaub zu zweit so detailreich geschildert, seien es Cringe-Momente Sophies wegen Papa, der auch ihr bester Freund sein will, oder ihre plötzlich kleinmädchenhaften Selbstvorwürfe, dass sie beim Tauchen versagt habe? Die Urlaubshandlungen zwischen Strand, Ausflügen und musikalischer Abendbespaßung sind so unspektakulär, dass man ihnen nicht traut.

Doch dann rückt der melancholische Calum in den Fokus und sein Tanz in einer Disco zu Queens und David Bowies „Under Pressure“. In seiner Hingabe und Verzweiflung erinnert er an Denis Lavants ekstatische Verrenkungen in Claire Denis’ „Beau Travail“. Bebildert er womöglich den im Song beschworenen „Last dance“?

Calums innere Verletzungen symbolisiert auch sein eingegipster Unterarm. Die 11-jährige Sophie erfasst mitunter das schwermütige Wesen ihres Vaters, doch wenn sie beim Philosophieren über bedrückende Gefühle sprechen will, wiegelt Calum ab: Man sei doch hergekommen, um Spaß zu haben. Es ist schwer zu sagen, wer hier wen beschützt. Ein unerschwinglicher, handgewebter türkischer Teppich spielt eine Rolle, und eine achtlos dahingeworfene Bemerkung Sophies scheint den dünnhäutigen Calum zu treffen.

So liegt trotz Urlaubsfreuden wie Planschen im Pool, eines von Sophie initiierten Geburtstagsständchens für den Papa oder der Abenteuerlust des Mädchens stets ein latenter Schmerz über der Zweisamkeit. Es spricht für diesen subtilen, in seiner Machart eher spröden und doch sehr zu Herzen gehenden Film, dass er Geheimnisse nicht offenbart und sich für seine Schilderung viel Zeit nimmt. „Aftersun“ erzählt mit einem herausragenden Schauspielerduo von Ungesagtem, von ersten und letzten Malen sowie von selbstverständlich empfundener Liebe und hallt noch lange nach.

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