Spielfilm „Òlòtūré“ auf Netflix: Menschenhandel global
Seit seiner Veröffentlichung Anfang Oktober auf Netflix ist der nigerianische Film „Òlòtūré“ zu einem Überraschungserfolg geworden.
Eine junge Frau flieht vor einem Mann aus dem Fenster einer Hoteltoilette. Später erfahren wir, dass es sich bei ihr um eine Journalistin handelt, die undercover im Rotlichtmilieu von Lagos recherchiert. Auf einer Party wird sie unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Schließlich gelingt es ihr, das Vertrauen eines Menschenhändlerrings zu gewinnen. In einem improvisierten Ausbildungslager wird sie von kettenrauchenden Gangstern in ihr Dasein als Prostituierte in Italien geschunden. Ob sie dort ankommt, erfahren wir nicht, aber ein gutes Ende nimmt das alles kaum.
Das ist grob die Handlung des jüngsten Films des nigerianischen Filmemachers Kenneth Gyang. Inspiration dafür lieferte die Recherche nigerianischer Journalistinnen wie Tobore Ovuorie, die diesen Horrortrip nach Europa selbst mitgemacht haben.
Radikal richtet „Òlòtūré“ seinen Blick auf das Hässliche in der Welt. Gemacht ist er im dokumentarischen Cinema Verité-Stil, oft gedreht nur mit der Handkamera, atmosphärische Bilder aus Nigeria gibt es so gut wie keine. Und im Original ist der Film in Pidgin, dem englischen Dialekt in Nigeria, bei dem auch englische Muttersprachler sich erst einhören müssen.
Es gibt also eine Menge Gründe, warum sich nur ein kleines Publikum für diesen Film interessieren könnte. Deshalb ist der Erfolg, den „Òlòtūré“ seit seiner Veröffentlichung Anfang Oktober auf Netflix erlebt, um so erstaunlicher. Ein paar Tage nach der Veröffentlichung war er schon auf Platz 7 der meistgesehenen Spielfilme auf Netflix geklettert, ließ also ein riesiges Feld von Hollywood Mainstreamproduktionen hinter sich.
In 26 Ländern gleichzeitig, und dabei in so verschiedenen wie Frankreich, Saudi-Arabien und Vietnam, war der Film in den Top Ten. Zwei Wochen nach der Veröffentlichung sind es noch ein halbes Dutzend Länder mehr. Damit ist „Òlòtūré“ der erste nigerianische Film überhaupt, der international breite Beachtung findet.
Universelle Themen
Wie erklärt man einen solchen Erfolg? Für den Regisseur des Films, Kenneth Gyang, sind dafür vor allem drei Faktoren entscheidend. „Menschenhandel ist eine riesiges Geschäft und das Thema ist sehr aktuell“, sagte er der taz. „Zweitens haben wir einen technisch soliden Film gemacht. Und wir haben eine universelle Geschichte über die Unterdrückung von Frauen erzählt.“ Als gutes Beispiel für den letzten Punkt nenne er oft den indischen Film „Dangal“, sagt Gyang. 2016 war der Film ein weltweiter Kassenerfolg. „Wenn man universelle Themen behandelt, wie in „Dangal“ das Vater-Tochter-Motiv, dann können Filme sehr leicht kulturelle Grenzen überwinden.“
Dennoch sei „Òlòtūré“ für ihn auch „ein persönlicher Triumph. Für Filmemacher wie mich war es immer enorm schwer, einen Film finanziert zu bekommen. Seit Jahren führe ich dieselbe Diskussion. Alle haben immer gesagt, wir müssen Komödien machen, die haben Erfolg. Deshalb stellt „Òlòtūré“ einen echten Wendepunkt dar.“
Finanziert wurde „Òlòtūré“ von Mo Abudus Produktionsfirma EbonyLife Films. Weil Abudu eine tägliche Talkshow im Fernsehen hat, wird sie in den Medien gern „Afrikas Oprah“ genannt. In der Vergangenheit war EbonyLife Films vor allem für eher seichte Komödien bekannt. Jetzt hat die Produktionsfirma einen Vertrag mit Netflix geschlossen, um mehr nigerianische Filme auf der Streamingplattform zu veröffentlichen.
Abseits vom Mainstream
Das Naserümpfen der Filmpuristen über Netflix, weil es das gemeinschaftliche Kinoerlebnis kaputtzumachen droht, teilt Gyang nicht. „Für uns alternative nigerianische Filmemacher ist Netflix eine großartige Sache. Mein erster Film „Confusion Na Wa“ zum Beispiel war nicht einmal in nigerianischen Kinos zu sehen. Anspruchsvolle Filme, die sonst nie einen Vertrieb gefunden hätten, sind auf Netflix auf einmal für viele zugänglich.“
Außerdem habe der Erfolg von „Òlòtūré“ auf Netflix geholfen, einen anderen langlebigen Mythos zu zerschlagen. „Ich denke, mein Film hat auch gezeigt, dass das Publikum nicht nur die ein Prozent von dem einen Prozent sehen will“ – ein deutlicher Seitenhieb gegen das Nollywood Mainstreamkino, das Filme fast ausschließlich unter den Reichen und Schönen in Lagos ansiedelt.
Deshalb passt es auch sehr gut ins Bild, dass Kenneth Gyang gerade an vorderster Front steht, wenn es darum geht, gegen die Polizeieinheit Sars zu protestieren. Vor allem junge Leute gingen in den vergangenen Wochen gegen die notorisch brutalen und korrupten Polizisten in Nigeria auf die Straße – was für viele Beobachter einen epochalen Emanzipationsmoment für das Land darstellt.
Am Donnerstag prangte auf Kenneth Gyangs Facebook-Seite eine geballte Faust in den nigerianischen Nationalfarben.
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