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Spielfilm „Sing Sing“ über KnastalltagUnschuldig hinter Gittern spielen

„Sing Sing“ von Greg Kwedar zeigt eine Theatergruppe im gleichnamigen US-Gefängnis. Der Spielfilm orientiert sich an wahren Begebenheiten.

Colman Domingo ist für seine Rolle in „Sing Sing“ als bester Hauptdarsteller für einen Oscar nominiert Foto: Weltkino

Berlin taz | Die Schlussszene steht ganz am Anfang: Divine G. steht auf der Bühne, hält eine flammende, poetische Rede, Applaus, Verbeugung. Aufgeregtes Durcheinanderreden in den Kulissen, die Schauspieler ziehen sich grüne Hemden an, stellen sich in Reih und Glied auf und werden in ihre Zellen gebracht. Die Theatergruppe des Gefängnisses Sing Sing in der Kleinstadt Ossining, etwa 50 Kilometer nördlich von New York City in den USA, hat den „Sommernachtstraum“ von Shakespeare aufgeführt.

Eine Theatergruppe im Gefängnis Sing Sing gibt es wirklich. Auch „Divine G“, bürgerlich John Whitfield, gibt es wirklich. Das Gleiche gilt für eine Reihe der anderen Schauspieler, im Maskulinum, schließlich dreht es sich um ein Männergefängnis. Regisseur Greg Kwedar („Transpecos – Zwischen Gut und Böse herrscht ein schmaler Grat“ und „Jockey“) hat ehemalige Insassen, die am Theaterprojekt in Sing Sing beteiligt waren, auf die Kinoleinwand geholt. Den Film nannte er „Sing Sing“ – wie das Gefängnis.

Der Plot ist schnell erzählt: Divine G., offenbar unschuldig hinter Gittern, was er aber nicht beweisen kann, ist der inoffizielle Leiter und Star der Theatergruppe. Als Schriftsteller mit Schauspielerfahrung schreibt oder adaptiert er Stücke, leitet die anderen an, übernimmt selbst oft die Hauptrolle.

Weil Insassen kommen und gehen, wechselt auch immer wieder das Ensemble. Nach dem „Sommernachtstraum“ sucht die Gruppe neue Mitspieler. Divine G. schlägt Divine Eye vor, einen Drogendealer, der auch im Knast krumme Geschäfte abwickelt. Die anderen sind skeptisch. „Er will immer die Leute retten“, sagt einer. Doch weil Divine Eye tatsächlich Shakespeare zitieren kann, darf er mitspielen.

Hollywoodesk, ohne in den Kitsch abzurutschen

Immer wieder gerät er mit Divine G. aneinander, schnappt ihm eine Rolle weg, will keine Ratschläge von ihm annehmen. Er stört die Proben, weil er im Gefängnis erlernte Verhaltensweisen nicht abzulegen vermag („Warum läufst du hinter mir lang? Mach das nicht! Auf dem Hof machen wir das nicht!“). Mit der Zeit weicht er aber auf – und wird am Ende Divine G.s enger Freund. Spätestens hier zeigt sich: Die Geschichte ist im besten Sinne hollywoodesk. Ohne dabei in den Kitsch abzurutschen.

In der wirklichen Welt halten sich die Sympathien für Gefängnisinsassen eher in Grenzen, wie auch Kommentare in den sozialen Medien zeigen: Die säßen „da schon nicht ohne Grund“, die Strafen seien noch viel zu gering, Beschwerden seien übertrieben, schließlich „ist das kein Hotel“.

Der Film

„Sing Sing“. Regie: Greg Kwedar. Mit Colman Domingo, Clarence Maclin u. a. USA 2023, 107 Min.

Für eine Hollywoodgeschichte über Gefangene heißt das: Sympathien lassen sich besser erzeugen, wenn der Protagonist unschuldig einsitzt. Man könnte also fast sagen, da haben es sich die Filmemacher leicht gemacht – doch die Geschichte beruht schließlich auf wahren Begebenheiten: John „Divine G“ Whitfield saß unschuldig. Ebenso wie viele weitere Schwarze Menschen in den USA. Eine Realität, die viel zu selten thematisiert wird.

Überhaupt, auch das ist ungewöhnlich: Ein Hollywoodfilm mit Schwarzen Menschen in den Hauptrollen – und überhaupt einer fast ausschließlich Schwarzen Besetzung. Auch sie ist der Realität US-amerikanischer Gefängnisse geschuldet. Nur eine Hauptrolle ist mit einem weißen Schauspieler besetzt – die des Regisseurs Brent Buell (gekonnt verkörpert von Paul Raci – „Sound of Metal“), auch ihn gibt es wirklich, der über Jahre regelmäßig ins Gefängnis fuhr, um das Theaterprojekt anzuleiten.

Drei Nominierungen für die Oscars 2025

Gespielt wird John Divine G. Whitfield von Colman Domingo, der einen ähnlichen Hintergrund hat wie Whitfield: Er ist nicht nur Schauspieler, sondern auch Tänzer, Bühnenautor, Thea­terregisseur und Sänger. Bekannt wurde er 2015 mit seiner Rolle als Victor Strand in der Serie „Fear the Walking Dead“, 2020 spielte er im Oscar-prämierten Spielfilm „Ma Rainey’s Black Bottom“ den Bandleader Cutler.

Durch das Medium Theater erlebt man Träume und Ängste der Insassen

Seine herausragende Leistung in „Sing Sing“ hat Domingo für die diesjährigen Academy Awards, die am 2. März in Los Angeles verliehen werden, schließlich selbst eine Oscarnominierung als bester Hauptdarsteller eingebracht. Der Film ist darüber hinaus in zwei weiteren Kategorien nominiert: für das beste adaptierte Drehbuch sowie den besten Filmsong („Like a Bird“).

Durch das Medium Theater – oder besser: die Theaterproben – werden den Zu­schaue­r:in­nen die kleinen und großen Träume und Ängste der Insassen nähergebracht. Ein Mitspieler erzählt, wie er seiner Ehefrau das erste Mal sagte, dass er sie liebt – und wie sehr er sie jetzt vermisst, seit sie gestorben ist.

In leisen Szenen, in denen die Bilder mehr sagen als Worte, bekommt man zudem Einblicke in den Haftalltag: Divine Eye in seiner Zelle, der dort Dutzende an Konservendosen hortet. Der dicke Briefumschlag, der darüber entscheidet, ob das Gnadengesuch von Divine G. anerkannt wurde oder nicht. Der um Verzeihung bittende Blick, den Divine Eye einem jungen Mithäftling zuwirft, den er zuvor in die Mangel genommen hatte.

Wie die Zeit im sonst gleichförmigen Gefängnisalltag vergeht, lässt sich anhand der Anzahl der Theaterproduktionen erkennen. Alle sechs Monate gibt es eine neue Aufführung. Neunmal holt sich Divine G. noch einen Schlussapplaus ab, bevor er endlich entlassen wird.

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