Spanische Menschentürme: Kataloniens Hochstapler

Jenseits von Stierkampf und Flamenco: Castells sind lebendiges Unesco-Weltkulturerbe in der nordspanischen Region.

Beim Aufbau eines Castells im spanischen Penedes. Bild: Annika Müller

Es beginnt mit einem Zittern in Joán Ferrats Knie: Im dritten seiner bislang insgesamt sechs Stockwerke beginnt der Turm aus übereinandergestapelten Menschen zu wackeln. Lluís, der Mann aus der zweiten Turmebene, auf dessen Schultern Joán Ferrat steht, packt mit aller Kraft dessen kräftige Waden und versucht den kunstvollen Aufbau zu stabilisieren.

.Sein Gesicht läuft vor Anstrengung rot an. Lluís und seine drei Etagenkollegen tragen eine nun unkontrolliert schwankende Last von mehr als 300 Kilo auf ihren Schultern, während immer weitere Menschen an ihren Rücken und den Rückseiten ihrer Beine entlang in Richtung Turmspitze klettern.

Inzwischen hat die traditionelle Schnabelflötenmusik, die den Aufbau eines Castells begleitet, ausgesetzt. Für einen Moment ist es totenstill auf dem überfüllten Marktplatz des Dörfleins Bisbal de Penedès. Alle Augen richten sich auf Lluís, Joán und die anderen Castellers, wie die Mitglieder einer Turmbaumannschaft auf Katalanisch genannt werden. Einige von ihnen haben vor Anstrengung die Augen fest zusammengekniffen. Halten, halten, halten! ist das Einzige, was nun zählt. So lange, bis das „Enxaneta“ genannte Kind auf die Spitze geklettert ist und den Arm als Signal für den erfolgreichen Aufbau des Turms in die Höhe streckt. Zu einem gelungenen Castell zählt allerdings auch der erfolgreiche Abbau.

Castells werden bei vielen Patronatsfesten in Katalonien, vor allem in der Provinz Tarragona errichtet.

24. Juni zu Sant Joan in Valls

30. August zu Sant Felix in Vilafranca del Penedès

23. September zu Santa Tecla in Tarragona

1. Sonntag im Oktober in geraden Jahren großer Wettbewerb in der Arena von Tarragona

1. Sonntag nach dem 21. Oktober zu Santa Úrsula in Valls

1. November Allerheiligen in Vilafranca del Penedès

Doch das Zittern setzt sich unaufhaltsam fort. Noch während die fünfjährige Naiara sich Menschenetage für Menschenetage nach oben arbeitet, sackt der Turm in sich zusammen wie ein Kartenhaus. „Fer Llenya“ heißt dieser Einsturz in der Terminologie der Castellers, was in etwa „Kleinholz machen“ bedeutet.

Wer diesem Schauspiel noch nie beigewohnt hat, dem bleibt jetzt nahezu das Herz stehen. Einige der durcheinanderpurzelnden Leiber fallen immerhin aus der Höhe eines mehrstöckigen Hauses. Doch die Menge, die sich von Baustart an mit erhobenen Händen dicht an die „Colla“ genannte Castellmannschaft gedrängt hat, fängt die Stürzenden zuverlässig auf und führt sie kontrolliert zu Boden.

Die Enttäuschung ist groß, schließlich sollte die besonders schwierige Formation der Mannschaft der „Castellers de Vilafranca“ den Triumph im freundschaftlichen Wettstreit mit zwei anderen Gruppen bringen und den Höhepunkt des Patronatsfestes in Bisbal de Penedès darstellen.

Über 60 „Colles Castelleres“ mit insgesamt rund 16.000 Mitgliedern gibt es in Katalonien. Besonders aktiv sind sie in der Provinz Tarragona, wo die Castells ein fester Bestandteil der Patronatsfeste, auf Katalanisch „festes majores“, sowie religiöser Feierlichkeiten sind. Alle zwei Jahre finden sich zudem im Oktober die besten „Colles“ in Tarragona zu einer inoffiziellen Olympiade zusammen. Die „Castellers de Vilafranca“ haben in diesem Jahr bereits zum fünften Mal in Folge den Sieg davongetragen.

Dass die derzeit erfolgreichste „Colla“ ausgerechnet aus Vilafranca kommt, kann kaum verwundern, lässt sich die Tradition in der Hauptstadt des Kreises Alt Penedès doch über 200 Jahre zurückverfolgen. Damals bildeten drei Mann hohe Menschensäulen den Höhepunkt christlicher Prozessionen. Auch in der Provinz Valencia, die über Jahrhunderte zu Katalonien gehörte, waren Menschentürme Bestandteil traditioneller, „Muixeranga“ genannter Tänze des 17. und 18. Jahrhunderts. Als Wiege der Castells in ihrer modernen, sportlichen Form gilt aber die Stadt Valls nahe Tarragona, wo Ende des 18. Jahrhunderts sogar von Straßenkämpfen zwischen den Anhängern rivalisierender „Colles“ berichtet wurde.

Die Basis eines Turmbaus. Bild: Annika Müller

„Ich finde es sehr wichtig, dass die Welt erfährt, dass wir Katalanen unsere eigene Kultur haben, die mit Stierkampf und Flamenco nichts zu tun hat“, sagt David Miret i Rovira, Leiter der 400 Mitglieder starken „Castellers de Vilafranca“. Viele Katalanen wünschen sich auch nach dem Ende der Franco-Diktatur die Unabhängigkeit von Spanien. Die Wiederbelebung der Traditionen wie dem Castellbau, der unter Franco teilweise verboten war, und der Gebrauch der katalanischen Sprache sind Ausdruck einer erstarkenden nationalen Identität in der nordspanischen Region zwischen Pyrenäen und Ebrodelta.

„Der Castellbau ist ein Symbol der Solidarität“, ist Miret i Rovira überzeugt. „Jeder trägt gleich viel Verantwortung für den gemeinschaftlichen Erfolg.“ Vor allem in kleineren Dörfern stärkt dies den Zusammenhalt der Bewohner. In Vilafranca träumt jedes Kind davon, einmal von der Spitze des Turms die jubelnde Menge grüßen zu dürfen. Doch dazu muss man nicht nur Geschicklichkeit, sondern auch Disziplin und Bereitschaft zu intensivem Training mitbringen.

Pol Escudero Laporta, Vater von Enxaneta Naiara und selbst Casteller, ist stolz darauf, dass seine Tochter die Tradition weiterträgt. Zwar sei ein Verletzungsrisiko durchaus vorhanden, räumt er ein, aber auf der Straße zu spielen sei gefährlicher. Tatsächlich kam es in der über 200-jährigen Geschichte der Castells nur zu drei Todesfällen durch Abstürze: Erstmals im 19. Jahrhundert, dann erst wieder im Jahr 1983 und zuletzt im Juli 2006. Die heute geltende Helmpflicht für die Kinder und Jugendlichen, die die Spitze der Türme bilden, war bereits beschlossen, aber noch nicht umgesetzt.

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