Soziologe über Gewalt unter Jugendlichen: „Messer sorgen für Respekt“
Nach Lünen und Berlin nun Flensburg: Wieder wurde ein Jugendlicher Opfer einer Attacke. Soziologe Dirk Baier zu der Frage, warum Teenager sich bewaffnen.
taz: Nach der Messerattacke von Berlin Anfang März ereignete sich jetzt in Flensburg wieder ein Fall, bei dem eine Minderjährige von einem Jugendlichen getötet wurde. Gibt es eine Zunahme solcher Angriffe?
Dirk Baier: Wenn man die nackten Zahlen der Fälle von schwerer Gewalt bei Jugendlichen betrachtet, so kann man in den letzten Jahre keinen Anstieg beobachten. Die Zahlen sind stabil oder sogar rückläufig, es handelt sich momentan eher um eine zufällige Häufung.
Woher kommt der Eindruck, solche Attacken nähmen zu?
Das liegt meines Erachtens an der medialen Fokussierung auf das Thema, denn innerhalb kurzer Zeit wurde viel über diese Fälle berichtet. Menschen versuchen immer einen Sinn zu finden und Dinge miteinander in Beziehung zu setzen – auch wenn diese eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben.
Die Tatbeschreibungen ähneln sich. Handelt es sich eventuell um Nachahmungstäter?
Aus der Forschung über schwere Gewalt wissen wir, dass es einen Effekt hat, wenn Jugendliche sehen, wie andere Jugendliche ihre Probleme lösen. Die Berichterstattung ist zweifellos gerechtfertigt, gleichzeitig kann dies aber auch Jugendliche ansprechen, die in ähnlichen Situationen stecken. Ich habe die Sorge, dass es sich negativ auswirkt, wenn einzelne Ereignisse eine so intensive Berichterstattung erfahren. Nicht umsonst gibt es die Selbstverpflichtung der Medien, über Selbstmorde nicht explizit zu berichten.
Warum trugen die Jugendlichen Waffen?
Wir beobachten bei männlichen Jugendlichen einen Trend, Messer mit sich zu führen. Das hat zweierlei Gründe. Erstens gibt ihnen das ein gewisses Gefühl von Sicherheit – dahinter steckt die Idee, sich bei Gefahr schützen zu können. Außerdem sorgt es für Respekt und Anerkennung im Freundeskreis, wenn man ein Messer mit sich trägt. Das hat viel mit dem Ideal der Männlichkeit zu tun.
In einem großen Teil der Fälle hatten die Täter einen Migrationshintergrund. Sind solche Jugendliche besonders gefährdet, zum Täter zu werden?
ist Soziologe und seit 2015 Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und forscht unter anderem zu Jugendkriminalität.
Bei Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Hintergrund stellen wir eine starke Orientierung an sogenannten Männlichkeitsnormen fest. Diese beinhalten, dass man als Mann auf die eigene Ehre und die der Familie achten muss, dass man hierfür auch Gewalt einsetzen darf. Aber zweifelsohne gibt es auch sozial schwache deutsche Milieus, in denen ein ähnliches Ideal der Männlichkeit vermittelt wird.
Das heißt, es kommt mehr darauf an, welche Vorstellungen von Männlichkeit bei den Jugendlichen vorherrschen?
Ja, denn eine starke Orientierung an Männlichkeit geht auch mit einer stärkeren Affinität zu Waffen einher. Das Tragen von Messern ist daher in einigen kulturellen Milieus weiter verbreitet. In emotional stressigen Situationen ist dann die Wahrscheinlichkeit höher, dass Messer eingesetzt werden und die Beteiligten schwer verletzt oder gar getötet werden. Männlichkeitsorientierungen und Waffenverfügbarkeit gehen in diesen Fällen eine unheilvolle Allianz ein.
Der verurteilte Täter aus Hamburg-Barmbek wird viele Jahre im Gefängnis sitzen. Was passiert mit Jugendlichen, die schon so früh in ihrem Leben eine Gewalttat verübt haben? Besteht dort eine hohe Gefahr, dass sie als Erwachsene rückfällig werden?
Jugendliche befinden sich auch neurologisch gesehen in einer Phase des Wandels. Wenn sie in jüngeren Jahren eine Gewalttat begehen, können sie als Erwachsene ohne Weiteres ein normkonformes Verhalten an den Tag legen. Eine frühe Auffälligkeit bedeutet noch keine lebenslange Auffälligkeit. Aber daran muss intensiv gearbeitet werden. Haftstrafen machen in diesen Situationen tatsächlich Sinn – wenn die Täter dabei eng psychologisch begleitet werden.
Welche Präventionsmaßnahmen gibt es und was scheint Ihnen speziell an Schulen ein geeigneter Ansatz, um solche Taten zu verhindern?
Die Schulen beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit Gewaltprävention. Das Thema Waffen hat dabei in den letzten Jahren allerdings keine Rolle gespielt. Hier müssen wir in den Dialog gehen und fragen: Warum tragen Jugendliche Waffen? Was hat das mit Männlichkeit zu tun? Es tut zwar weh, den Schulen auch noch diese Aufgabe aufzutragen. Aber gerade dort passiert so viel, an den Schulen können wir Jugendliche aus allen Milieus erreichen. Wir müssen darüber reden, wie Jugendliche Anerkennung erhalten. Und was es heißt, ein Mann zu sein ohne dafür Waffen tragen zu müssen.
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