Soziologe über Digitalisierung: „Menschen sind emotional“

Bisher sahen sich Menschen als rationale Wesen. Christoph Kucklick ist überzeugt: Im Zuge stärkerer Rechner wird sich dieses Bild ändern.

Dieses Modell ist dann doch etwas älter. Bild: complize/photocase

taz: Herr Kucklick, 272 Seiten hat Ihr Buch über Digitalisierung. Wie ist Ihre Beziehung zur Digitalisierung in einem Satz?

Christoph Kucklick: Ich bin endlos fasziniert – und endlos erschrocken.

Beides? Warum?

Ich bewundere die technischen Möglichkeiten, die gerade entwickelt werden. Viele werden unser Leben positiv beeinflussen. Ich erschrecke, wie sehr die Digitalisierung unsere Gesellschaft überfordert und welche derzeit noch unlösbaren Fragen sie aufwirft.

Was ist Ihres Erachtens der Kern der Digitalisierung?

In einem Satz: Intelligente digitale Maschinen kommunizieren in unserer Gesellschaft mit. Plötzlich sind sie überall dabei. Sie rechnen uns aus, sie überraschen uns, sie bewerten und sortieren uns.

Wie wird uns das beeinflussen?

Wir sehen uns bislang selbst als überwiegend rationale Wesen, darin besteht das Narrativ der Moderne. Dieses gängige Menschenbild werden wir verändern müssen, je mehr wir es mit kognitiv gleichrangigen oder sogar überlegenen Maschinen zu tun haben.

51, ist Soziologe, Chefredakteur der Zeitschrift Geo und Autor des Buches „Die Granulare Gesellschaft – Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst“. Darin stellt Kucklick den Kritikern der Digitalisierung eine Studie entgegen, die auch die Möglichkeiten betont, die in den neuen Technologien stecken. Durch die Digitalisierung werde die Erfassung der Menschen und der Wirklichkeit immer feiner, granularer. Dies werde unsere Institutionen und unser Selbstbildnis verändern. Kucklick wird auf dem taz.lab am Samstag in Berlin mit Yvonne Hofstetter darüber diskutieren.

In welche Richtung könnte das gehen?

Wir werden als zukünftiges Alleinstellungsmerkmal des Menschen nicht die Rationalität ausmachen, sondern die Sozialität: unsere Emotionalität und Empathie. Und wir werden eine nochmals gesteigerte Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Menschen kultivieren.

Warum das?

Die Unterschiede zwischen Menschen werden deutlicher herausgearbeitet, weil sie durch digitale Sensoren und digitale Maschinen besser erfasst werden können. Wir werden uns darauf einstellen müssen, mit diesem Mehr an Unterschieden umzugehen und diese bereitwilliger anzuerkennen. In den jetzigen Debatten rund um Gender- und Rassismusfragen geht es ja bereits stark um die größere Anerkennung von Unterschieden.

Digitalisierung könnte uns helfen, Rassismus und Sexismus zu überwinden?

Die grobkörnigen Unterschiede und Ausschlüsse, die wir in der Moderne getroffen haben, zwischen Männern und Frauen, zwischen Ethnien und Nationen, werden uns in der Rückschau als brutal simpel und menschenverachtend vorkommen.

Gedöns ist Umwelt, ist, was wir essen, wie wir reden, uns kleiden. Wie wir wohnen, lernen, lieben, arbeiten. Kinder sind Gedöns, Homos, Ausländer, Alte. Tiere sowieso. Alles also jenseits der „harten Themen“. Die taz macht drei Wochen Gedöns, jeden Tag vier Seiten. Am Kiosk, eKiosk oder direkt im Probe-Abo. Und der Höhepunkt folgt dann am 25. April: der große Gedöns-Kongress in Berlin, das taz.lab 2015.

Sie sprechen von digitaler Revolution. Warum?

Digitalisierung ist nicht nur eine technische Innovation. Sondern etwas, das fundamental neue Fragen aufwirft.

Welche denn?

Zum Beispiel: Wir werden es zunehmend mit intelligenten Maschinen zu tun haben, die eigenständig handeln, die uns also überraschen. Diese Überraschung ist, anders als bei bisherigen Maschinen, aber keine Fehlfunktion, sondern das, was wir erwarten. Kürzlich etwa hat eine Maschine ein altes mathematisches Problem gelöst, das sogenannte Erds-Diskrepanz-Problem.

Einziges Problem: Der Beweis ist elf Milliarden Zeilen lang, also so umfangreich wie die gesamte Wikipedia. Kein Mensch kann den Beweis noch überprüfen. Das wirft die Frage auf: Können Maschinen wahrheitsfähige Aussagen treffen? Und: Akzeptieren wir die Aussagen von Maschinen, auch wenn wir sie nicht mehr prüfen können? Das ist ein historisch neues Problem.

Gibt es weitere Beispiele?

Ja. Obamas letzter Wahlkampf war extrem technologie- und datengetrieben. Obama konnte Wähler viel gezielter ansprechen als bislang und seine Botschaften sehr feinteilig maßschneidern. Das verändert nachweislich die Kommunikation im Wahlkampf und damit die Dynamik der Demokratie. Bestimmte Dinge werden kommen; mit denen werden wir uns auseinandersetzen und die werden wir regulieren müssen.

Wer kann diese Regulierung übernehmen? Der Politik trauen Sie das ja nicht zu.

Ich vertraue der Politik nicht, weil ich ihr inzwischen zu viel zutraue. NSA- und BND-Skandal, VDS und vieles mehr: Demokratisch gewählte Regierungen stehen derzeit nicht aufseiten der Bürger, sondern verfolgen ihre eigenen Ziele, vor allem: die Möglichkeiten des Digitalen zu mehr Kontrolle und Überwachung zu nutzen. Damit scheiden sie als ehrliche Makler aus. Wir übersehen leicht, dass die Hauptschurken im Digitalen nicht die Konzerne, sondern die Staaten sind. Ich setze daher eher auf gesellschaftliche Entwicklungen, auf eine Mischung aus Markt-, Regulierungs- und zivilgesellschaftlichen Lösungen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Als gute Idee empfinde ich den Vorschlag von Viktor Mayer-Schönberger und Kenneth Cukier, sogenannte Algorithmisten einzuführen. Sie sind eine Art Wirtschaftsprüfer für Algorithmen. Sie überprüfen, ob Algorithmen fair und angemessen operieren.

Wo wäre das relevant?

Etwa an den Staatsgrenzen. Oft errechnen Algorithmen, wer kontrolliert wird. Nach welchen Kriterien funktionieren diese Algorithmen? Sind sie fair? Das wissen wir meist nicht. Dafür brauchen wir Kontrollinstanzen, eben jene Algorithmisten. Wirtschaftsprüfer sind in einer ähnlichen Situation Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Konzerne wurden so groß, dass diese von außen niemand mehr kontrollieren konnte.

Sie haben darüber gesprochen, dass uns Maschinen überraschen werden. Maschinen werden aber von Menschen programmiert.

Viele Maschinen sind heute lernende Maschinen, die anhand der Daten, die man ihnen füttert, selbstständig Schlüsse ziehen oder Dinge erkennen. Was dabei herauskommt, ist nicht mehr zu prognostizieren. Ein Beispiel sind Abverkaufsprognosen für Supermärkte. Längst prognostizieren Maschinen, wie viel Fleisch oder Gemüse am Wochenende verkauft wird – aber nicht anhand einer von Menschenhand programmierten Software, sondern einer eigenständigen Optimierung aller Daten. Womit sie übrigens um rund 40 Prozent besser liegen als die Prognosen der menschlichen Experten.

Wie das Maschinenergebnis allerdings im Detail zustande kommt, entzieht sich meist sogar der Einsicht der Datenwissenschaftler.

Zurzeit konzentrieren sich viele Unternehmen, die die Digitalisierung vorantreiben, auf das Silicon Valley.

Digitalisierung hat zu einer deutlichen Verschärfung der Ungleichheit in entwickelten Gesellschaften geführt. Derzeit erzielen Unternehmen, die clever mit digitalen Technologien umgehen, enorme Überrenditen. Das liegt aber nicht zwingend im Wesen der Digitalisierung, sondern entspricht der jetzigen Phase. Wir werden dazu kommen müssen, die Datenströme und den Umgang mit Daten auf eine neue Weise zu regulieren, und wir brauchen dafür neue Kontrollmöglichkeiten.

Agieren Google & Co nicht in Gesetzeslücken, was vielen Menschen Angst macht?

Mir auch. Vieles spielt sich derzeit in einem Freiraum ab, der Ängste weckt. Ein Kennzeichen von einer Revolution ist aber auch, dass man oft noch gar nicht die Fragen formulieren kann, deren Antworten man benötigt.

Brauchen wir aber nicht jetzt Leitsätze in dem Umgang mit Daten? Beispiel: Krankenversicherungen. Wie können wir an einem solidarischen Krankenkassenmodell festhalten, wenn unser Verhalten immer genauer erfasst und bewertet wird?

Das ist die Personalisierung von Dienstleistungen. Es wird ein starkes Interesse geben, solche Möglichkeiten zu eröffnen – nicht nur von Versicherungen, auch von Menschen, die sich davon einen Vorteil erhoffen.

Ist es dann vorbei mit der Solidarität?

Die Solidarität in unserer Gesellschaft kommt massiv unter Druck. Ich weiß nicht, ob sie vorbei ist, aber sie wird ganz neuen Bewährungsproben ausgesetzt.

Sie sagen, in einer digitalen Gesellschaft werden neue Begabungen wichtig. Was meinen Sie damit?

Datenkonzerne wie Google und Facebook sind nicht nur umstritten, sondern auch Avantgarde. Da ist es spannend zu schauen, welche Mitarbeiter, welche Fähigkeiten suchen die eigentlich? Das Ergebnis beschreibe ich in meinem Buch. Die Datenkonzerne legen keinen hohen Wert auf bestimmte Fachkenntnisse, sondern auf das Talent, Lösungsansätze in unübersichtlichen Problemlagen zu finden.

Oft gehört dazu, die Probleme, die man lösen möchte, überhaupt erst einmal zu erfinden. Gefragt sind Leute, die schnell Ressourcen aus den unterschiedlichsten Gebieten zusammenbringen können und rasch vergessen, was gestern wichtig war – um heute neue Ansätze zu entwickeln. Das wird, so vermute ich, eine zentrale digitale Begabung werden.

Wird das auch in absehbarer Zukunft eine menschliche Domäne bleiben?

Ja, das werden Maschinen nicht so schnell schaffen.

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