Sozialverbandschef über Kürzung: "Zivis waren billige Unterstützung"
Werner Hesse vom Paritätischen Gesamtverband über Folgen des Mini-Zivildienstes und das schleichende Ende des Dienstes: Bald lohnt er nicht mehr.
taz: Herr Hesse, bedeutet die Verkürzung von neun auf sechs Monate das Ende des Zivildienstes?
Werner Hesse: Vielleicht nicht das Ende. Aber wie schon bei früheren Verkürzungen werden sich Einsatzstellen überlegen müssen, ob es noch Sinn macht, mit Zivis zu arbeiten. Bei sechs Monaten Dienstzeit fällt ein großer Teil für Urlaub und Anlernzeit aus. Da werden viele Einsatzstellen sagen: Das lohnt sich nicht mehr.
Welche Bereiche sind besonders betroffen?
Der 52-jährige Jurist ist Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands (vormals Paritätischer Wohlfahrtsverband).
All die Bereiche, in denen die Einführungszeit besonders intensiv ist. Im Rettungsdienst muss drei Monate angelernt werden. Dort ist Zivildienst nicht mehr vorstellbar. Es trifft aber auch die Alten- und Behindertenbetreuung. Dort werden die Betroffenen von Zivis bei intimsten Tätigkeiten begleitet. Es ist kaum zumutbar, dass die betreuten Personen sich alle paar Monate auf neue Bezugspersonen einstellen sollen.
In den Bereichen, wo Zivildienstleistende tätig sind, liegt der Anteil der Zivis bei nur 1,8 Prozent. Gibt es bei den Trägern eine Tendenz zu jammern?
Die 70.000 Zivis, die im Moment tätig sind, machen sich keinen lauen Lenz. Sie sind unbestritten eine große Hilfe. Wenn diese Stellen nun zum Teil wegfallen, können vor allem die kleinen Tätigkeiten nicht mehr ausgeführt werden: Zum Beispiel ein Spaziergang mit einem alten Menschen durch den Park. Das bedeutet Lebensqualität und Abwechslung für die betroffenen Personen. Dazu haben Pflegekräfte mittlerweile keine Zeit mehr.
Trotzdem klagen manche Stellen nun, der Betrieb würde ohne Zivis zusammenbrechen. Entlarven sich diese Träger, weil sie offenbar bisher die Zivis nicht als Ergänzung, sondern als Stütze genutzt haben?
Natürlich. Aber diese Stütze ist gerne von allen in Anspruch genommen worden – auch vom Sozialstaat. Zivis waren eine billige Unterstützung. Es wäre gar nicht finanzierbar gewesen, die Stellen mit Fachkräften zu besetzen. Es ist nicht nur die Schuld bei den Trägern zu suchen. Jetzt muss eine neue Lösung gefunden werden.
Wäre die Erweiterung des Freiwilligen Sozialen Jahres eine solche Lösung?
Das Potential ist da, es gibt mehr Bewerber als Plätze. Aber auch diese Plätze kosten Geld. Deshalb fordern wir, dass Zivis ihre Dienstzeit freiwillig verlängern können.
Wäre es konsequenter gewesen, die Wehrpflicht ganz abzuschaffen und den Freiwilligendienst zu fördern?
Wenn man den Zivildienst ganz abgeschafft hätte, wäre tatsächlich auch für den sozialen Bereich ein größerer Handlungsdruck entstanden. So, wie es ist, bleibt die Abschaffung des Zivildienstes ein schleichender Prozess.
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