piwik no script img

Sozialstruktur"Auch Neukölln kann sich stabilisieren"

Die Soziologin Bettina Reimann meint, dass zur Bewertung der Zukunft eines Quartiers auch die lokale und ethnische Ökonomie gehört. Dem Reuterviertel gibt sie gute Chancen. Eine Verdrängung durch Aufwertung befürchtet sie nicht.

taz: Frau Reimann, die jüngste Studie zur sozialen Stadtentwicklung hat zum Ergebnis, dass die Schere zwischen armen und reichen Quartieren auseinandergeht. Sind Sie überrascht?

Bild: DIFU

BETTINA REIMANN, geboren 1967, ist Soziologin am Deutschen Institut für Urbanistik. Ihr Schwerpunkt ist Stadtentwicklung und Wohnungspolitik.

Bettina Reimann: Nein. Soziale Ungleichheiten bilden sich räumlich ab. Auch sehr kleinräumig, so dass sie in Stadtquartieren ablesbar sind. Die Rahmenbedingungen, die zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten beitragen, wie zum Beispiel die Situation auf dem Arbeitsmarkt, haben sich ja grundsätzlich nicht verbessert.

Laut der Untersuchung sind auch neue Brennpunkte in Spandau und Reinickendorf dazugekommen.

Das gute an kleinräumigen Untersuchungen ist, dass man sehr früh auf Entwicklungen aufmerksam wird. Es sind ja nicht immer die bekannten Gebiete wie Neukölln, in denen soziale Probleme auftauchen.

In vielen Problemgebieten gibt es seit langem Quartiersmanager. Alleine in Neukölln sind es neun. Warum ist da kein Erfolg zu beobachten?

Das Problem ist die Erwartungshaltung an das Quartiersmanagement. Die ist oft zu hoch. Das Quartiersmanagement ist ein Ansatz, der dafür sensibilisiert, dass Probleme in einem sozialen, städtebaulichen und ökonomischen Zusammenhang stehen, und dafür wirbt, dass Maßnahmen auf lokaler Ebene entwickelt und umgesetzt werden, die die Folgen dieser Probleme abmildern. Die Probleme selbst, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, können damit nicht gelöst werden.

Gerade im Neuköllner Reuterkiez gab es über das Quartiersmanagement hinaus zahlreiche Maßnahmen, unter anderem die Nutzung leerstehender Läden für Künstler. Zudem sind auch zahlreiche Studierenden zugezogen. Dennoch gehört das Gebiet weiter zur letzten Kategorie. Müsste man nicht auch andere Indikatoren heranziehen, um solche positiven Entwicklungen messen zu können?

Das ist richtig. Es müsste möglich sein, Indikatoren im Hinblick auf die lokale oder ethnische Ökonomie heranzuziehen, beispielsweise die Zahl der Existenzgründungen oder die Selbständigenquote bestimmter Bevölkerungsgruppen. Beides entwickelt sich in Neukölln sehr dynamisch. Auch die Nischen, die ein Stadtteil bietet, sind wichtig.

In anderen Quartieren wie dem Kreuzberger Wrangelkiez hat sich die Situation stabilisiert. Was läuft da besser?

Das Viertel ist in. Man trifft sich beim "Freischwimmer", geht im Winter auf einem Boot an der Spree saunen, guckt über die Brücke am Schlesischen Tor und sieht MTV. Das sind neue Märkte, die funktionieren.

Kann das auch ein Vorbild für den Reuterkiez sein?

Das ist durchaus möglich, wenn sich die Funktionsmischung im Quartier verbessert. Wenn ich das richtig sehe, ist die Mischung aus Wohnen, Kleingewerbe und Kultur in Kreuzberg immer noch besser ausgeprägt als in Neukölln. Aber: Seit einiger Zeit gibt es in Neukölln das Label sowie die Adresse "Kreuzkölln", und ich bin sicher: Das wird nachgefragt.

Wo endet die Stabilisierung und wo beginnt die Aufwertung, die Gentrification? Die Angst davor ist im Reuterviertel ja durchaus vorhanden.

Es gibt durchaus eine Aufwertung, die stabilisierend wirken kann. Dazu gehören auch die Studenten und Gewerbetreibenden, die ins Reuterviertel gezogen sind, weil dort die Mieten niedrig sind. Die Gentrification beginnt dann, wenn die soziale Verdrängung einsetzt; wenn Menschen wegziehen, weil sie sich Wohnen und Gewerbe im Kiez nicht mehr leisten können. Eine solche Entwicklung sehe ich in Neukölln derzeit aber nicht.

Könnte die Schließung des Flughafens Tempelhof und eine Wohnbebauung an der Grenze zu Neukölln eine solche Entwicklung einleiten?

Das glaube ich nicht. Es würde eher zur Stabilisierung auch im Süden von Neukölln beitragen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!