Sozialer Aufstieg auf Social Media: Teures Versprechen
Auf TikTok zeigen Teenager, wie sie ihr Leben optimieren. Sie takten ihren Tag durch wie Investmentbanker*innen.
N och nie in meinem Leben habe ich ein Vision Board erstellt, auf dem ich meine Ziele zusammengewürfelt aus hübschen Collagen arrangiert habe. Ich bin auch noch nie um 6 Uhr aufgestanden, um meine Vorsätze für den Tag aufzuschreiben. Wie so vieles auf Social Media verkaufen Vision Boards die Idee des sozialen Aufstiegs. Die Idee, dass es jeder Mensch schaffen kann, wenn er es nur klar genug sehen kann, auf Pinterest hübsche Fotos zusammenstellt und den 15-Prozent-Rabattcode verwendet, den es von Influencer*innen dazugibt.
Ich habe lange überlegt, was ich mir auf mein Vision Board pinnen würde und mir ist nichts eingefallen. Das Leben besteht für mich aus einer Stufe nach der anderen. Ohne, dass ich die Treppe sehen kann, oder wohin sie führt. So ist das mit dem sozialen Aufstieg nämlich wirklich: Wenn es Zuhause an vielem mangelt, mangelt es oft auch an großen Träumen.
Dafür gibt es ja Social Media. Eine deutsche Influencerin mit einer Million Instagram-Follower hat in ihrer Story ihr Erfolgsgeheimnis „verraten“: Nicht etwa, dass ihr pastellfarbener Feed und ihr Leben im perfekten Haus mit Mann und Kind unser Bedürfnis nach einer heilen Welt stillt und sie sich erst durch unseren Voyeurismus diese heile Welt leisten kann, sondern, dass sie jeden Tag mit positiven Gedanken startet. Passend dazu hat sie vor Kurzem auch ein Buch zum Manifestieren herausgebracht.
Mit Manifestationen bestellt man seine Wünsche ans Universum. Mit Manifestationen kann man auch ordentlich Geld machen. Indem man wie sie zum Beispiel ein Buch darüber schreibt oder wie andere Influencer*innen teure Kurse dazu anbietet, in denen versprochen wird, durch manifestieren reich zu werden. Wobei sie nicht „reich“ sagen, sondern „finanzielle Freiheit erlangen“. „Freiheit“ verkauft sich gut, auch wenn man auf dem Weg dahin alles an Freiheit aufgeben muss.
Vermarktung durch that girl von nebenan
So zeigen schon Teenager auf TikTok ihre Routine: wie sie um 6 Uhr aufstehen, Sport machen, Tagebuch schreiben, einen gesunden Smoothie trinken, meditieren, ihr Gesicht reinigen, schminken und dann erst in den Tag starten. Sie nennen es „becoming that girl“ und that girl nutzt jede Sekunde ihres Lebens.
Wieso schaut der Alltag eines Teenagers auf Tiktok so durchgetaktet aus wie der eines Investmentbankers aus Frankfurt? Ist es nicht das Schöne an der Adoleszenz, völlig planlos in den Tag zu starten, möglichst lange auszuschlafen und zu gammeln? Teenager wollen so die beste Version ihrer selbst werden, dabei können sie noch nicht wissen, wer sie sind, sie stecken ja mitten in der Findungsphase.
Die Vermarktung von Selbstoptimierung ist nicht neu. Nur sind die, die uns das verkaufen, schon länger nicht mehr große Firmen, sondern that girl von nebenan, die in einem Posting erklärt, wie gefährlich sie diesen Druck findet und im nächsten schon Produkte bewirbt, die uns näher an unsere Ziele bringen sollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?