Soziale Proteste in Chile: Es geht um alles
Vor allem junge Leute protestieren in Chile gegen soziale Ungerechtigkeit. Die Älteren erinnert das Militär auf den Straßen an die Diktatur.
Besonders viele junge Menschen sind hier zusammengekommen. Sie sind es, die die Protestwelle angestoßen haben. Alles fing an wegen der Erhöhung der Fahrpreise der U-Bahn von 800 auf 830 Pesos, umgerechnet etwa vier Euro-Cent, Anfang Oktober. Schüler riefen zur „evasión“ auf, zum kollektiven Schwarzfahren.
Innerhalb weniger Tage breiteten sich die Proteste auf alle U-Bahn-Stationen aus, anschließend auf die gesamte Stadt und dann aufs ganze Land. Um die Fahrpreise geht es schon lange nicht mehr.
„Wir protestieren nicht nur wegen der U-Bahn. Die Leute haben die Nase voll von den niedrigen Löhnen und Renten, von den hohen Studiengebühren und Krankenversicherungen“, sagt die 25-jährige Fernanda. Sie ist mit ihrer Schwester und mit ihrer Mutter zum Plaza Italia gekommen. „Ich verstehe nicht, warum die Regierung die Militärs auf die Straße geschickt hat, wenn wir doch angeblich in einer Demokratie leben.“
Der Ausnahmezustand bedeutete den endgültigen Bruch
In den Protesten entlädt sich die jahrzehntelang angestaute Wut der Bevölkerung. Das neoliberale Wirtschaftssystem, das seinen Ursprung in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) hat und anschließend von den demokratischen Regierungen verwaltet wurde, hat die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter vertieft. Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und Rentensystem – alles ist privatisiert.
Protestruf in Santiago
Chile ist eines der Länder mit der höchsten sozialen Ungleichheit weltweit: Ein Prozent der Bevölkerung konzentriert fast ein Drittel des Reichtums, wie Zahlen der Cepal belegen. Die Hälfte der Bevölkerung Chiles verdient weniger als 400.000 Pesos im Monat, umgerechnet etwa 500 Euro.
Der Großteil der Bevölkerung gibt also etwa zehn Prozent seines Monatslohns dafür aus, zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Die Mindestrente liegt umgerechnet zwischen 100 und 200 Euro. Viele Studenten müssen sich verschulden, um die Universität zu bezahlen. „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“, ist deshalb einer der Protestrufe.
Als Präsident Piñera am Freitag den Notstand ausrief und das Militär losschickte, um die Proteste zu kontrollieren, kam es zum endgültigen Bruch zwischen den Demonstrierenden und der Regierung. Am Samstag folgte dann die Ausgangssperre. Diese Maßnahmen wurden in Chile das letzte Mal 1987 während der Militärdiktatur von Pinochet ergriffen. Mittlerweile hat die Regierung in fast allen Regionen des Landes den Notstand ausgerufen und Ausgangssperren verhängt. 9.500 Soldaten patrouillieren mit Panzerwagen auf den Straßen.
Militärhubschrauber kreisen über der Menge
„Für mich ist Piñera ein Diktator“, sagt die 58-jährige Claudia, die auch zum Plaza Italia gekommen ist. Sie trägt eine Brille und kurze Haare. „Ich habe die Diktatur miterlebt. Was hier passiert, ruft bei mir viele Erinnerungen wach. Deshalb bin ich hier, für die jungen Generationen, um ihnen ein besseres Land zu hinterlassen“, sagt sie.
Die Proteste am Plaza Italia sind friedlich, man spürt einen starken Zusammenhalt und Aufbruchstimmung. Gleichzeitig aber auch eine starke Anspannung, denn immer wieder versuchen Polizei und Militär die Menschenmenge mit Tränengas und Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Militärhubschrauber kreisen über der Menge.
Menschenrechtsbeobachter in Chile sind besorgt wegen der Gewalt, mit der Polizisten und Militärs gegen die Demonstrierenden vorgehen. In den sozialen Netzwerken zirkulieren immer mehr Videos von Jugendlichen mit Schusswunden. Mehrere Menschen wurden von Panzerwagen überfahren.
Laut Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte gibt es mittlerweile 13 Tote, 84 Verletzte durch Schusswaffen von Polizei und Militär und 1.420 Festnahmen. Bei über 100 der Festgenommenen handelt es sich um Minderjährige. Das Institut hat außerdem zwölf Anklagen wegen Folter registriert und zahlreiche Fälle von Frauen, die gezwungen wurden, sich auszuziehen und die sexuell belästigt wurden.
„Kein Krieg, denn nur eine Seite ist bewaffnet“
Die Regierung von Sebastián Piñera versucht hingegen weiterhin, die Demonstrierenden als gefährliche Feinde darzustellen. Es handele sich um eine „kleine Gruppe Krimineller“, die sehr gut organisiert seien. Die chilenischen Fernsehsender helfen dabei, sie zeigen fast ausschließlich Bilder von Verwüstung, Bränden und Plünderungen von Supermärkten. Am Sonntag sagte Piñera im Fernsehen: „Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind.“
Carolina, Demonstrantin
Der 20-jährige Nicolás hat wie viele Demonstrierende eine Maske dabei, um sich vor dem Tränengas zu schützen. Er wurde bereits einmal festgenommen. „Die Soldaten haben ihre Waffen auf mich gerichtet. Ich habe gesehen, wie sie aus kurzer Distanz auf andere Jungen geschossen haben. Heute haben hier in der Nähe Menschenrechtsbeobachter den Leuten mit Schusswunden geholfen und die Militärs haben sie mit Tränengas angegriffen, ein paar Meter neben dem Krankenwagen“, berichtet er. „Als der Präsident gesagt hat, dass wir uns im Krieg befinden, hat er vergessen, dass hier bewaffnete Soldaten und Polizisten auf den Straßen sind, die wirklich glauben, dass sie im Krieg sind. Und es ist kein Krieg, denn nur eine Seite ist bewaffnet.“
Die chilenischen Medien berichten jedoch nicht von der Gewalt durch Polizei und Militär. Die sozialen Netzwerke haben sich deshalb zur wichtigsten Informationsquelle entwickelt, aber auch zum fruchtbaren Boden für Fake News. Immer wieder werden Dokumente geteilt, die vor Lebensmittelknappheit warnen und davor, dass Strom und Wasser abgestellt werden. Auch im Fernsehen werden Bilder von langen Schlangen an Supermärkten gezeigt, die an die 70er Jahre erinnern.
Viele Demonstrierende meinen, dass dahinter eine Strategie der Regierung steckt. So auch die 35-jährige Carolina. „Warum verhindern die Polizisten nicht, dass Supermärkte geplündert werden? Sie wollen für Chaos sorgen. Sie wollen, dass die Leute Angst haben und gegeneinander kämpfen. Und dann sagen sie uns, dass wir Polizei und Militärs brauchen, die für Ordnung sorgen. Die Regierung sagt, dass wir die Kriminellen sind, aber die eigentlichen Kriminellen sind die Polizisten und die Militärs.“
„No tenemos miedo“ – wir haben keine Angst!
Carolina kommt aus dem Stadtviertel Peñalolén und protestiert mit einem Plakat, auf dem steht: „No Más Doctrina del Shock“, Schluss mit der Schock-Doktrin. Der Begriff wurde von der Kanadierin Naomi Klein geprägt in ihrem Buch „Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus“.
Darin erklärt sie am Beispiel Chiles unter Pinochet, wie Ausnahmesituationen, militärische Niederlagen oder Naturkatastrophen dazu genutzt werden, breite Privatisierungsmaßnahmen und den Abbau sozialstaatlicher Mechanismen durchzusetzen.
Klein hat über ihren Twitter-Account Solidarität mit den Protestierenden in Chile geäußert. „Meine Mutter und meine Tante haben Angst und sagen mir, ich soll auf mich aufpassen. Aber wir sind nicht die selben von 1973. Wir müssen auf die Straße gehen und kämpfen“, sagt Carolina.
„No Tenemos Miedo“ – Wir haben keine Angst – steht auf vielen Plakaten der Protestierenden am Plaza Italia. „Die Zeit ist gekommen, dass wir zusammenhalten und Bewusstsein schaffen für das System, das uns alle unterdrückt“, sagt die 23-jährige Damaris Reyes, die ebenfalls hier protestiert. „Wir bleiben auf der Straße und wir werden weitermachen, bis Piñera zurücktritt.“
„Die Regierung muss wissen: Wir vergessen nicht!“
Während die Regierung weiterhin kein Verständnis für die Forderungen der Bevölkerung zeigt, breiten sich die Proteste immer weiter aus. Sie haben das ganze Land und die gesamte Gesellschaft erfasst. Selbst in den Reichenvierteln wird protestiert.
Die Gewerkschaften haben zum Nationalstreik aufgerufen, Schüler- und Studentenorganisationen wollen die Schulen und Universitäten besetzen. In immer mehr Stadtvierteln organisieren sich die Menschen in Versammlungen.
Am Sonntag etwa trafen sich mehr als 30 soziale und politische Organisationen im ehemaligen Folterzentrum Londres 38, um ihre Position gegenüber den Protesten zu äußern und zum Streik aufzurufen. Die 65-jährige Beatriz Bataszew wurde während der Pinochet-Diktatur verhaftet und gefoltert und setzt sich jetzt in der Organisation Memoria de Rebeldías Feministas für feministische Erinnerungskultur ein.
„Die Regierung muss wissen: Wir vergessen nicht, wir verzeihen nicht und wir versöhnen uns nicht. Die Militärs in den Straßen zeigen, dass ihre einzige Funktion ist, die Interessen des Kapitals zu verteidigen und ein System aufrecht zu erhalten, von dem einige wenige profitieren und viele ihr Leben und ihre Würde opfern müssen“, sagt sie. Das Treffen wird immer wieder unterbrochen von Tränengasbomben, die die Polizei draußen auf die Straße wirft, wo sich Menschen versammelt haben.
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