Soziale Krise in Kuba: Glaubwürdigkeit wackelt
Kubas Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem gelten als „Errungenschaften der Revolution“. Die ökonomische Krise hat sie erodiert.
D ie Kindersterblichkeit ist ein Indikator, auf den die revolutionäre Führung Kubas immer sehr stolz war. Zu Recht, denn bis 2018 gab es nur eine Richtung: Die Kindersterblichkeit sank bis auf die Quote von 3,9 pro 1.000 Lebendgeburten. Das ist bis heute ein historischer Rekord für die Insel, die auch international überaus bekannt ist für ihre Erfolge im Gesundheitssystem.
Über doppelt so viele Ärzt:innen pro Einwohner wie Deutschland verfügte Kuba offiziellen Zahlen zufolge noch vor wenigen Jahren – und über ein auf Prävention ausgelegtes Gesundheitssystem. Strukturen, die erklären, warum Kuba über Jahrzehnte anderen Ländern unentgeltlich bei Naturkatastrophen oder bei latenten Problemen im Gesundheitssystem mit Gesundheitsbrigaden unter die Arme greifen konnte.
Kubas Gesundheitssystem diente über Jahrzehnte als Vorbild für andere Länder, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) lobte die Expertise und den Mut kubanischer Ärzt:innen und Pflegekräfte bei Auslandseinsätzen wie in Liberia gegen Ebola oder in Haiti.
Kindersterblichkeit steigt, statt zu sinken
Als Chefärzte der internationalen Solidarität wurden die Gesundheitsbrigaden unter kubanischer Flagge wiederholt bezeichnet, die oft unentgeltlich und ab 2003 in Venezuela und Brasilien auch gegen Honorar tätig waren. Das brachte Devisen in die chronisch leeren Kassen der Regierung in Havanna, und zumindest ein Teil floss zurück ins System und sorgte lange dafür, dass das Versorgungsniveau gehalten werden konnte.
Geschichte, denn die latente Wirtschaftskrise, die Kuba mit kleinen Unterbrechungen seit Beginn der 1990er Jahre durchmacht und die derzeit alles bisher da Gewesene in den Schatten stellt, macht auch vor den „Errungenschaften der Revolution“ nicht halt. Die Kindersterblichkeit ist auf die Rate von 7,7 pro 1.000 Lebendgeburten gestiegen, die Lebenserwartung sank von rund 78 Jahren (2012) auf rund 73 Jahren (2021). Der Vorsprung bei den Sozialindikatoren, den Kuba lange gegenüber den USA hatte, ist dahin, und die Aussichten sind alles andere als positiv, so der kubanische Demograf und Ökonom Juan Carlos Albizu-Campos.
Ärzt:innen und Pfleger:innen wandern ab
Ein zentraler Grund dafür ist laut Experten die Covid-19-Pandemie, ein anderer die Erosion der Versorgung im Gesundheitssystem. Chronischer Medikamentenmangel, das Fehlen von OP-Bedarf, von Desinfektionsmitteln bis zur Bettwäsche ist in vielen kubanischen Kliniken heute Alltag. Bittere Realitäten, die sich jedoch bereits vor der Pandemie einstellten, wie nicht nur ein offener Brief des Schauspielers und Poeten Manuel Cepero aus dem April 2020 zeigt.
Cepero mahnte Präsident Manuel Díaz-Canel, die sanitären Missstände in der Universitätsklinik Calixto García abzustellen. Dort, in einer der wichtigsten Kliniken des Landes, waren mehrere OPs aufgrund ausbleibender Reparaturen zwischenzeitlich nicht einsetzbar. Nur ein Beispiel für die Talfahrt im kubanischen Gesundheitssystem, wo es nicht nur an Ausstattung, Equipment und nötigen Reparaturen mangelt, sondern zunehmend auch an Personal.
Kubanische Ärzt:innen, aber auch Pflegepersonal machen sich genauso wie Fachpersonal aus sonstigen Sparten auf den Weg ins Ausland, weil sie von ihrem Lohn in Kuba nicht leben können. Die Schere zwischen Lebenshaltungskosten und Löhnen klafft von Monat zu Monat immer weiter auseinander. Der Mindestlohn von 2.100 Peso cubano reicht gerade, um sich sechs Pfund Bohnen oder drei Pfund Schweinefleisch zu kaufen. Davon sind auch Besserverdiener wie Ärzte, die zwischen 5.000 und 10.000 Peso cubano verdienen, betroffen.
Perspektive? No hay!
Die Frage nach der persönlichen Perspektive auf der Insel wird immer öfter mit: no hay, gibt es nicht, beantwortet. Unter den 600.000 Kubaner:innen, die zwischen November 2021 und Januar 2024 die Insel verließen und in den USA ankamen, sind Zigtausende aus dem Gesundheits-, aber auch aus dem Bildungssystem. Sie wissen, dass sie in den USA gute Chancen auf Jobs haben, während in Kuba in beiden Sektoren händeringend nach Personal gesucht wird. Pensionierte Ärztinnen und Pädagoginnen werden landesweit angeworben.
Was Fidel Castro am 2. September 1960 in der „Erklärung von Havanna“ zusicherte, kann die heutige Regierung nicht mehr garantieren: das Recht auf Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Ernährung und Obdach sowie Bildung, Arbeit, Alters- und Gesundheitsversorgung.
Dafür ist die gescheiterte Währungsreform vom Dezember 2020 genauso mitverantwortlich wie eine Wirtschaftspolitik, die seit Jahrzehnten auf Kontrolle setzt, unproduktive Staatsunternehmen subventioniert und wenig privatwirtschaftliche Spielräume anbietet, wie kubanische Sozialwissenschaftler wie Pedro Monreal oder Pavel Vidal monieren.
Wesentliche Gründe, weshalb vor allem junge, gut qualifizierte Kubaner:innen die Insel in Scharen verlassen. Hinzu kommt, dass die Regierung von Miguel Díaz-Canel seit dem 11. Juli 2021, dem Tag der ersten inselweiten Proteste, ein mieses Image unter den Jüngeren hat. Die Niederschlagung der Proteste, die Inhaftierung von mehr als 1.400 Menschen, die ihr Recht auf Demonstration wahrgenommen haben, hat vor allem unter den 20- bis 40-Jährigen dafür gesorgt, dass sie wenig Hoffnung auf strukturelle Reformen unter der Ägide von Díaz-Canel haben.
Für beißende Kritik auf der Straße und bei der steigenden Zahl der Proteste sorgt obendrein die Untätigkeit der Regierung, die auf die Erosion der sozialen Systeme weder verbal noch real reagiert: „Was nutzt uns ein kostenloses Gesundheitssystem, wenn es keine Medikamente gibt und das Personal auf Trinkgeld angewiesen ist, um zu überleben?“ Strukturelle Reformen sind überfällig, aber dazu fehlt es allem Anschein nach an Konzepten und am politischen Willen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour