Sozialbetrug in Bremerhaven: Humanitäre Katastrophe
Die Mehrheit der Bremischen Bürgerschaft erkennt die nach Bremerhaven gelotsten Menschen „auch als Opfer“ an – die dringend Hilfe brauchen.
BREMEN taz | „Verelendung“ und „Verdunkelung“: Unter diesen Stichworten debattierte die Bürgerschaft gestern die Situation in Bremerhaven, nachdem dort der Sozialhilfebetrug durch die Vereine „Agentur für Beschäftigung und Integration“ und die „Gesellschaft für Gender Mainstreaming“ aufgeflogen ist.
Weiter verelendet sind viele der etwa 1.500 Menschen aus dem bulgarisch-türkischen Grenzgebiet, die durch die genannten Vereine nach Bremerhaven geholt worden waren: Im Februar hat das Sozialamt der Seestadt sämtliche Zahlungen an diese Personengruppe eingestellt. Mit „Verdunkelung“ ist die Schwierigkeit gemeint, von diesen Menschen Zeugenaussagen zu erhalten.
Späte Behörden-Reaktion
Dringend aufklärungsbedürftig ist unter anderem, warum die Bremerhavener Behörden, denen nach Angaben des Senats bereits 2013 starke Unregelmäßigkeiten aufgefallen waren, erst Anfang diesen Jahres energisch reagierten. Strukturell vergleichbare Betrugsfälle wie in Bremerhaven sind mittlerweile auch aus Duisburg, Offenbach und Landshut bekannt.
Ein großer Teil der nach Bremerhaven geholten Familien sei mittlerweile wohl in ihre Heimat zurückgekehrt, mutmaßen die Behörden. Die meisten sollen aus der Gegend von Warna am Schwarzen Meer stammen, Bulgariens drittgrößter Stadt, einst Endstation des Orient-Express.
Bei den in Bremerhaven Verbliebenen gebe es nun Obdachlosigkeit, sogar Unterernährung und (Zwangs-)Prostitution, berichtet zum Beispiel die Bremerhavener SPD-Abgeordnete Sybille Böschen. Hier müsse das Land jetzt seinen humanitären Verpflichtungen gerecht werden, die Grundversorgung sichern und die Ausweisung der Betroffenen verhindern, wie es in einem von der Linkspartei eingereichten Antrag heißt, dem sich SPD und Grüne anschlossen.
Keine „Massenvorverurteilung“
Nelson Janßen, Die Linke
Fast hätte sich sogar die FDP diesem Antrag angeschlossen – was nach der gemeinsam mit der Linkspartei initiierten Abschaffung der Majestätsbeleidigung ein neuerliches Beispiel früher undenkbarer undogmatischer Kooperation gewesen wäre.
Dieses breite Bündnis bis an den Rand der CDU und deren diversen Erweiterungen nach Rechtsaußen scheiterte jedoch daran, dass die Änderungsanträge der FDP nicht mehrheitsfähig waren. Der entscheidende Dissens: Die Liberalen wollen den in Bremerhaven Gestrandeten keine Einzelfallprüfung von Amts wegen, sondern nur auf Einzelantrag hin zubilligen.
Insbesondere die Linkspartei beharrt jedoch darauf, dass eine „Massenvorverurteilung“ der Betroffenen als Sozialhilfebetrüger untragbar sei: „Es gab auch tatsächliche Arbeitsverhältnisse“, Menschen, die unter prekären Verhältnissen geschuftet hätten, so deren Abgeordneter Nelson Janßen. Nun darauf zu warten, dass diese auf Grund einer nur auf Deutsch vorgetragenen Rechtshilfebelehrung individuell Widerspruch einlegen, entspräche nicht den Standards eines Sozialstaats.
In der Tat hat das Bundessozialgericht in einem Grundsatzurteil vom Dezember 2015 klargestellt, dass EU-Bürger, die mindestens sechs Monate in Deutschland leben, ein Anrecht auf Sicherung des Existenzminimums durch die Sozialämter haben.
Für die CDU vertrat deren sozialpolitische Sprecherin Sigrid Grönert dennoch die Position, dass es „keine Rechtsgrundlage für die Weiterversorgung dieser sicher bemitleidenswerten Menschen“ gäbe. Daher könne lediglich im Rahmen des Obdachlosenpolizeigesetzes für sie gesorgt werden.
Familiärer Pauschalvorwurf
Zu einer Zurechtweisung sah sich Parlamentspräsident Christian Weber (SPD) genötigt: Der SPD-Abgeordnete Patrick Öztürk, Sohn des beschuldigten Geschäftsführers der beschuldigten Vereine, sitze „klammheimlich in der letzten Reihe des Parlaments“ und sage nichts, hatte der FDP-ler Hauke Hilz moniert. Weber rügte: Öztürk sitze „weder klamm noch heimlich“ im Parlament – sondern als frei gewählter Abgeordneter.
Allerdings lenkt der Senat derzeit selbst das Augenmerk auf „die Familie des Beschuldigten“, wie es in einer Senatsantwort auf eine SPD-Anfrage heißt. Die habe, neben den Vereinen, auch selber fingierte Rechnungen in Auftrag gegeben. Wie dieser familiäre Pauschalvorwurf aufzufassen sei, wollte der zuständige Ressortsprecher auf Anfrage nicht näher erläutern.
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