piwik no script img

Sonsuzlugun dalgalarinda

In den Wellen der Endlosigkeit: Sich fremd zu fühlen, bedeutet fern zu sein von dem Ort, von dem wir gekommen sind und zu dem wir gehen werden

Wie Augen leuchten die Scheinwerfer der U-Bahn auf. Kreischend schiebt sie sich durch den dunklen Tunnel. Irgendjemand hat es geschafft, ein kleines Graffiti an den Waggon zu sprühen. Ein schwerer Rap-Song gelangt von meinen Ohren in meine Eingeweide. Ich kann ihn fühlen. Wenn jemand HipHop fragen würde: „Wo ist deine Heimat?“, dann würde er antworten: „Im Untergrund“.

Sonnenlicht dringt in meine Augen. In meinen vier Wänden fühle ich mich wohl, doch in den Straßen habe ich das Gefühl, fremd zu sein. Ich sehe eine Frau mit Kopftuch. Ob sie versteht, was ich meine? Ich setze mich zu ihr. Sie lächelt mich an. Sie kann meine Gedanken lesen: Sich fremd zu fühlen, sagt sie auf Türkisch, bedeutet fern zu sein von dem Ort, von dem wir gekommen sind und zu dem wir gehen werden. Meinst du die Türkei, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf. Nein, ich meine einen anderen Ort. Sie blickt aus dem Fenster. Ob sie die Stadt sieht? Sie wirkt so fern – in Gedanken. Auch ein wenig ausweglos.

Ich stehe auf und stelle mich an die Tür. Weiße Affen, höre ich einen schwarzen Deutschen sagen. Lässig angelehnt, deutet er auf eine Gruppe von Weißen, Deutsche. Sie sehen uns komisch an. Wir schauen zurück. Die Fremden sind nicht wir, spricht er leise. Jetzt durchdringen mich seine Augen. Fremd ist nur, was du in dir selbst nicht kennst. Wer sich vor dem Fremden fürchtet, seine Stimme klingt etwas kratzig, der hat im Grunde genommen bloß Angst vor sich selbst.

Wir steigen gemeinsam aus, doch er geht in eine andere Richtung. Ich weiß, ich werde ihn wiedersehen. Wir sind Pilger. Ich komme an einem türkischen Reisebüro vorbei. Mein letzter Türkeiurlaub wird wieder in meiner Erinnerung lebendig. Es war sehr schön. Die Menschen hörten zu. Aber mir wurde bewusst, dass ich anders bin, auch wenn ich dazugehöre. Leben in der Türkei? Es ist so weit weg. Die Berliner Straßen haben mich wieder zurück. Auch wenn sie mich gelegentlich deprimieren. Manchmal treffe ich auf junge Leute, sie sprechen weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch. Sie sagen, sie haben zwei Heimaten. Und dann fragen sie mich, ob das grammatikalisch richtig ist: Heimaten. Ich zucke mit den Schultern. Ich denke nur, Kinder, lasst euch nicht auf die Schlachtbank führen.

Der Duft von gebratenem Fleisch liegt in der Luft. Autos mit dumpfen Bässen schieben sich an mir vorbei. Augen begegnen Augen. Es ist kalt. Die Häuser sprechen. Tausend Stimmen reden zur gleichen Zeit, aber sie sagen alle nur das eine. Immer und immer wieder. Wo sind meine Gedanken? Woher kommen meine Träume? Aus dem Land meiner Eltern? Oder aus der Stadt, in der ich geboren bin? Ist mein Geist irgendwo zwischen diesen Welten gefangen? Liegt der Weg nach Hause noch vor mir, oder bin ich schon lange da und mir ist es gar nicht bewusst?

Ich lasse mich treiben, wie ein winziges Boot, in den Wellen der Endlosigkeit. Die Wüste ist das Meer, die Wellen sind die Dünen. Und der Sand ist das Wissen der alten Mysterien. Ein Koreaner im mittleren Alter reicht mir mein Essen. Die Welt, sagt er, ist nur eine Projektion. Ich glaube, er will mich trösten. Wonach wir suchen, finden wir nicht dort, er zeigt mit dem Finger nach draußen, sondern hier. Er deutet auf sein Herz und lächelt dabei ganz stolz. Vielleicht ist Heimat nur eine Konstruktion. Gar nicht real, so wie meine Schritte, die mich zum U-Bahn-Eingang bringen. Die Treppen ziehen mich wieder in die Tiefe. Mein Herz schlägt zum Rhythmus der Straße. HipHop ist die Sprache der Unterdrückten, der Benachteiligten, die aufschreien und sagen, vergesst uns nicht, was uns passiert, dass kann auch euch passieren.

Ich sprach mit einer Freundin, ich sagte zu ihr, dass ich mich wie ein Baum ohne Wurzeln fühle. Sie lachte und sagte, sei doch froh. Ja, du bist ohne eine Bindung, ohne einen Halt, Halt-los. Heimat-los. Aber dafür, sie machte eine kurze Pause, bist du auch freier. Sie hat Recht. Wir sind wie heimatlose Seelennomaden, in der Wüste der Menschlichkeit, von Traumoase zu Traumoase wandernd, suchen wir nach unserem wahren Selbst. Und doch vergeht kein einziger Tag, an dem wir kein Heimweh haben. MUTLU ERGÜN

Mutlu Ergün, 1978 in Berlin geboren, studiert an der FU Erziehungswissenschaften und Germanistik

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen