SPD

Wenigstens die GenossInnen sind begeistert: Ein Parteitag wählt Martin Schulz ohne Gegenstimme zum neuen Chef

Hundert Prozent Schulz

GenossInnen Die Wahl von Martin Schulz gerät zum Erweckungserlebnis einer Partei, die lange am Boden lag und nun wieder an ihre eigene Stärke glaubt. Aber hält diese Euphorie auch bis zur Bundestagswahl an?

Demut trifft Begeisterung. Martin Schulz nach seiner Wahl zum SPD-Parteichef, flankiert von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und NRW-Fraktionschef Norbert Römer Foto: A. Schmidt/reuters

Aus Berlin Pascal Beucker undStefan Reinecke

Als Martin Schulz am Sonntag um kurz nach halb zwölf die Halle betritt, wird er empfangen wie ein Popstar. Der Jubel ist ohrenbetäubend auf dem Berliner SPD-Bundesparteitag. Es ist nicht das übliche inszenierte Applausritual. Die Begeisterung der rund 600 Delegierten ist nicht gespielt. Die noch vor Kurzem so verzagten Genossen glauben tatsächlich freudentrunken an den Mann aus Würselen. Ist es mehr als Autosuggestion?

Ein Hauch des Geistes von Willy Brandt weht durch die Arena in Berlin-Treptow. „Seit ich Mitglied der SPD bin, schwärmen mir ältere Genossinnen und Genossen von der ‚Willy wählen’-Kampagne aus den 70er Jahren vor“, sagt die Juso-Vorsitzende Johanna Ueker­mann. Langsam bekäme sie „ein Gefühl dafür, was die Genossinnen und Genossen meinen“, meint die 29-Jährige.

„Es riecht nach Veränderung“

Martin Schulz hat der ermatteten SPD neues Leben eingehaucht. 13.000 Neuzugänge verzeichnet die Partei seit Januar. In Umfragen rangiert sie fast gleichauf mit der Union. Vor seiner Ausrufung zum Kanzlerkandidaten lagen die Sozialdemokraten noch bei 21 Prozent. „Es riecht nach Veränderung“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller.

Das ist auch das Gefühl von Marco Bülow. Anfang Februar lud der Bundestagsabgeordnete am Stadtrand von Dortmund zu einer Veranstaltung zu Langzeitarbeitslosigkeit ein. Normalerweise kommen zu solchen Themen zwei Dutzend, davon die meisten aus Pflichtgefühl. Doch diesmal drängelten sich hundert Interessierte im Saalbau in Mengende. Erstaunlich war das für Bülow, weil an der SPD-Basis in Dortmund seit Langem „Frust herrscht“, nur kurzzeitig aufgehellt, als die SPD Mindestlohn und Rente mit 63 für langjährig Beschäftigte durchsetzte. Nun ist Bülow überzeugt: „Die Apathie ist weg, die Motivation hoch.“ Ein Grund: Der neue SPD-Chef hat Fehler bei der Agenda 2010 eingestanden. „Damit hat Schulz vielen an der SPD-Basis aus der Seele gesprochen“, sagt Bülow.

Auf dem Parteitag nimmt Schulz das böse Agenda-Wort nicht in den Mund. „Es geht nicht um Vergangenheitsbewältigung“, sagt er. Lieber spricht der sozialdemokratische Hoffnungsbringer davon, die Arbeitsmarktpolitik „weiterentwickeln“ zu wollen. Darunter stellt er sich eine moderate Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Beschäftigte vor, gekoppelt mit Weiterbildungsmaßnahmen. Außerdem will er Beschäftigungsbefristungen ohne sachlichen Grund „auf den Prüfstand stellen.“ Revolutionär ist das alles nicht und soll es auch nicht sein: „Soziale Gerechtigkeit ist kein Begriff aus dem Lehrbuch des Klassenkampfs“, sagt Schulz.

Die SPD könnte nach der ­jüngsten Umfrage ein rot-rot-grünes Bündnis anführen oder die Große Koalition fortführen. Eine Emnid-Umfrage für Bild am Sonntag ergab, dass die SPD derzeit 32 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl erhalten würde, ein Prozent weniger als zuvor. Dafür steigen die Grünen von 7 auf 8 Prozent, während die Linke stabil bei 8 Prozent bleibt. Der Union werden demnach erneut 33 Prozent zugeschrieben. Die AfD steigt von 8 auf 9 Prozent.

Könnte der deutsche Regierungschef direkt gewählt werden, würden sich 46 Prozent für Merkel entscheiden, 38 Prozent für Schulz. (afp, taz)

Etwas mehr als eine Stunde spricht Schulz. Es ist eine Rede, wie man sie von ihm aus den vergangenen Wochen kennt. Er erzählt von seiner Herkunft „aus einfachen Verhältnissen“, seiner wilden Jugendzeit und der zweiten Chance, die er bekommen und genutzt habe. Er vergisst auch diesmal nicht, dass diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, „unseren Respekt verdient“ hätten. Genauso wie die Polizei, die Feuerwehr und die Rettungskräfte. „Wir brauchen wieder mehr Respekt in dieser Gesellschaft“, ruft Schulz in den Saal. „Das ist das, wofür wir streiten müssen!“

„London – New York – Paris – Würselen“

Auch in dem noch nicht verabschiedeten SPD-Wahlprogramm werde es um „Gerechtigkeit, Respekt und Würde“ gehen. Konkreter wird er in der Bildungs- und Familienpolitik. „Wir Sozialdemokraten wollen, dass Bildung gebührenfrei, wird von der Kita bis zu Studium“, sagt er. Zudem will Schulz einen Rechtsanspruch auf einen Platz in Ganztagsschulen durchsetzen. Und er verspricht Investitionen gerade in die Bildung: „Investieren ist das zentrale, was wir in den nächsten Jahren vornehmen müssen.“ Ansonsten wehrt sich sich Schulz gegen jegliches „Europa-Bashing“ und zieht klare Kante in Richtung AfD, die er als „Schande für Deutschland“ bezeichnet.

Am heftigsten wird der Beifall allerdings bei seinem Schlusssatz: „Ich will, Genossinnen und Genossen, der nächste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.“ Das ist das, was die Partei von ihm hören will. Die Delegierten bedanken sich überschwänglich: Bei der Wahl zum Parteivorsitzenden erhält er 100 Prozent der Stimmen. Das erinnert dann allerdings weniger an Willy Brandt denn an Erich Honecker.

Auf Hochtouren läuft auch das Schulz-Merchandising. Es gibt den Schlüsselbund „Ich bin ein Schulz-Anhänger“, den Baumwollbeutel „London – New York – Paris – Würselen“ und einen lebensgroßen Schulz-Pappaussteller. Bis der nach der Bundestagswahl im Kanzleramt aufgestellt werden kann, ist es noch ein langer, steiniger Weg.

Das Dilemma der SPD bündelt sich in einem Begriff: Volkspartei. Das will, muss sie sein. Für die SPD bedeutet das, mehr als von 30 Prozent gewählt zu werden. Es ist die Raison d’être der Partei – die Idee, Unter-, Mittelschicht und Bürgertum zu verbinden. Das ist irgendwo verloren gegangen. Weil die Milieus zu verschieden wurden, weil die Stammtische gar nicht mehr wählten, die Besserverdienenden Greenpeace-Sympathisanten die Grünen, das liberale Bürgertum Merkel.

Am Tag der Wahl von Martin Schulz zum neuen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten hat mit Frank-Walter Steinmeier der dritte Sozialdemokrat in der Geschichte das Amt des Bundespräsidenten übernommen. Der scheidende Präsident Joachim Gauck und seine Lebensgefährtin Daniela Schadt begrüßten Steinmeier und dessen Frau Elke Büdenbender am Sonntag auf der Treppe vor dem Schloss und zogen sich zu einem Gespräch zurück. Eine gute Stunde später verließen Gauck und Schadt den Amtssitz.

Gauck (77) hatte auf eine zweite Amtszeit verzichtet. Steinmeier (61) wurde im Februar als Nachfolger gewählt. Am Mittwoch wird der frühere SPD-Außenminister vereidigt. Vor Steinmeier dienten die SPD-Männer Gustav Heinemann (1969–1974) und Johannes Rau (1999–2004) als Bundespräsidenten. (dpa, taz)

Was Volksparteien in individualisierten, auf Selbstverwirklichung geeichten Gesellschaften eigentlich sind, ist nicht leicht zu sagen. Die SPD aber wirkte zuletzt wie eine Verwaltung, die Beschlussvorlagen und Karrieren produzierte, aber keinen Sinn, keine Erzählung stiftete. Dieser Eindruck ist seit Schulz wundersamerweise verschwunden.

Für den Soziologen Oliver Nachtwey, Autor der auch in der SPD viel beachteten Studie „Die Abstiegsgesellschaft“, ist das, was die Partei bis jetzt an Veränderung angekündigt hat, noch zu wenig. Schulz habe als Instinktpolitiker schnell gemerkt, dass Gerechtigkeit als Thema in der Luft liegt. „Wenn er zu oft ‚Ja, aber‘sagt, wird die Begeisterung wieder verfliegen“ so Nachtwey.

Aber davon ist auf dem Berliner Parteitag nichts zu spüren.