Sohn eines NS-Widerständlers über Stärke: „Mein Vater war nur noch Knochen“
Detlef Baade ist Sohn eines kommunistischen Widerstandskämpfers. Er trägt das Erbe seines Vaters weiter. Ein Protokoll.
Mein Vater kam aus einer Kaufmannsfamilie, konservativ, das hat ihm wahrscheinlich so einen Kick gegeben: dass er nicht vergessen hat, es gibt auch andere. Er hat mir erzählt, dass er als Junge, mit 16, 17 Jahren einen Mann kennengelernt hat, Max Hölz, der damals schon, also Ende der 20er-Jahre, ein sogenannter Widerstandskämpfer und Antifaschist war. Der sagte: „Mensch, wir müssen aufpassen vor Nationalismus, vor Rassenhass.“ Er hat ganz früh mitgekriegt, dass aus Österreich oder aus Süddeutschland sehr viele Leute kamen, die nationalsozialistisch eingestellt waren.
Hier in Hamburg hat er Anfang der 30er weitergemacht in der Kommunistischen Partei; in der Peterstraße in der Hamburger Altstadt, da hat er seinen Friseurladen gehabt mit Ober-, Unter- und kleinem Kellergeschoss. Er war der jüngste selbstständige Friseur hier, mit 20. Es waren ganz kleine Räume, das waren vielleicht 10 bis 15 Quadratmeter Fläche und oben hat er gewohnt.
Er hat mir die Geschichte erzählt, wie die Gestapo kam. Er hatte nachts Ausgangsverbot und die SS hat bei ihren Kontrollgängen geklopft und wenn Besuch da war, Sozialdemokraten und Kommunisten, mussten alle raus und zum Verhör ins Stadthaus, da war die Gestapo. Unten gab es noch einen kleinen Kellerraum, da hat er seine Abzugsmaschine für die Flugblätter gehabt. Hätten sie ihn erwischt, dann hätten sie ihn gleich erschossen.
Die Kommunisten hatten ihn zum Sprecher ihrer Verhandlungskommission vor dem Altonaer Blutsonntag von 1932 gemacht, dem Aufmarsch der SA, bei dem es zu Zusammenstößen mit einer Menschenmenge kam, Altona war damals ein Arbeiterbezirk. Zwei SA-Leute wurden durch Schüsse getötet, in der Folge wurden dafür vier Kommunisten zum Tode verurteilt. Später wurde nachgewiesen, dass die Schüsse von der Polizei abgegeben worden waren.
Er sah schwach aus
Mein Vater war 1,70 groß und wog vielleicht 55 Kilo. Er sah schwach aus, aber er hatte eine unheimlich große Stärke gehabt, eine menschliche Stärke. Groß und kräftig heißt es immer, er war klein und kräftig, geistig kräftig.
Bei uns war jedes Wochenende ein politischer Frühschoppen, dann waren seine alten Kameraden, seine Widerstandskämpfer, seine KZ-Leute bei uns und haben politisiert, und ich als kleiner Bursche war natürlich dabei. Da habe ich das immer wieder mitgekriegt, und selbst wenn wir alleine waren, hat mein Vater immer noch aufgearbeitet. Er hat mir sogar manchmal, was er anderen nicht erzählen mochte, unter Tränen berichtet, obwohl ich das damals gar nicht verstanden habe.
Das ging los, als ich sechs Jahre alt war, ich habe das intravenös gekriegt. Ich war der Jüngste. Ich habe noch einen Bruder und eine Schwester. Mein Bruder ist ganz anders, er hat sich dafür gar nicht interessiert. Meine Schwester hat auch viel mitbekommen, die Große, aber sie war nicht so tief drin.
Ich wurde bei Gedenktagen an die Opfer des Nationalsozialismus zum Ohlsdorfer Friedhof mitgenommen. Ich kannte die Leute dann ja auch schon, manchmal waren da auch andere kleine Kinder. Da haben wir dann gesagt: „Ach, deine Mutter ist auch hier, ja, die war ja auch KZlerin und Widerstandskämpferin.“
Ich war ein Vaterkind. Mein Vater ist auch früh geschieden worden von meiner Mutter, ab meinem zehnten Lebensjahr war sie nicht da. Wir durften wählen, ob wir zur Mutter oder zum Vater gingen. Mein Vater ist 1912 geboren, 1954, im hohen Alter, hat er mich gezeugt, das war die Nachkriegsfreude, die er gehabt hat. Mein Vater war als 19-Jähriger im Gefängnis, weil immer, wenn große Nazis oder Hitler hier in Hamburg waren, wurden die Linken, die Antifaschisten eingesammelt und erst mal vorsichtshalber ins Gefängnis gesteckt.
Zuschauer bei der Hinrichtung
Manchmal kamen sie zur Gestapo ins Stadthaus, nur zum Verhör und zum Prügeln. Das Gefängnis war in Altona. Im Untergeschoss gab es ein hohes Gitter und da war er dann untergebracht mit den Kommunisten vom Altonaer Blutsonntag, Bruno Tesch und wie sie alle hießen. Die wurden abgeholt, und weil er neugierig war, hat er sich einen kleinen Schemel hingestellt und da hat er gesehen, wie der Bruno Tesch mit dem Handbeil hingerichtet worden ist. Wenn er das erzählt hat, dann kamen mir die Tränen. Das hat er niemandem erzählt, nur uns.
Ich habe meinen Vater auch gefragt, weil er beim Blutsonntag dabei war: „Wie hast du die bekämpft, hast du Waffen gehabt?“ Und da hat er gesagt: „Nein, meine Waffe ist die Zunge.“ In den 70er-, 80er-Jahren kam die NPD auf und ich sagte: „Mit solchen Leuten würde ich nicht sprechen.“ Da sagte er: „Mit denen spreche ich gerade.“ Das hat mir sehr imponiert.
Man hat ihn gequält im Stadthaus. Da gab es dann einen Holzblock, über den er geschnallt worden ist. Rücken frei, Hose runter und mit dem Lederriemen den Rücken geprügelt, den Hintern geprügelt und in die Kniekehlen mit Eisenstangen, so dass man gar nicht mehr laufen konnte. Einmal hat er gesagt: „Guck’ dir mein Bein an. Da haben sie durchgestochen mit dem Bajonett und auf der anderen Seite ist es wieder rausgekommen. Aber ich habe meine Kameraden nicht verraten.“
Sein Bruder hingegen, der ja später Pastor war, der hat erzählt: „Ja, der Nachbar war da, der Kommunist war da, der Sozialdemokrat war da“, der hat die Namen genannt. Und da hat mein Vater zu ihm gesagt: „Du Memme, das verrät man nicht.“ Der Bruder war dann erst mal Seemann, ist mit dem Schiff weit weg gefahren, vielleicht war das auch eine Flucht. Die Brüder haben dann gar nicht mehr über das Thema gesprochen.
Anzeige wegen Hochverrats
Jemand hat gesagt: Ich habe gesehen, wie der Herbert Baade geschossen hat. Und dann hat man ihn so gequält, dass er das zugegeben hat. Er hat eine Anzeige wegen Hochverrats bekommen und sollte zum Tode verurteilt werden. Und dann erinnert er sich: Da war ich doch im Hafenkrankenhaus, hatte eine Blinddarmoperation und das hat er dem Staatsanwalt gesagt.
Und der Staatsanwalt war natürlich auch ein hochgradiger NS-Mensch, aber er hat gesagt: Wenn du den Beleg liefern kannst, dann kommst du frei. Er hat den Beleg geliefert. Aber dann sagte er: „Wenn ich hier rauskomme, draußen steht schon die SA und die führt mich wieder ab.“ Und so war es dann auch.
Er war Kommunist, aber anders im Vergleich zu anderen Kommunisten: Er war selbstständiger Frisör, lief immer im Anzug und mit Schlips und Kragen. Zum Beispiel war eine Demonstration hier auf dem Heiligengeistfeld, da hieß es schnell weg, da kommt die SA. Und er ging denen entgegen. Die haben ja nicht geahnt, dass einer, der gut gekleidet war, dazugehört. „Wo sind die hingelaufen?“, haben die gefragt. Da hat er sie ganz woanders hingeschickt.
Er war im Kolafu, dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel, wo er untergebracht war, der Friseur. Später hat er mit dafür gesorgt, dass dort die Gedenkstätte hinkommt. Er hat dort rasiert und musste auch Leuten die Haare abschneiden. Da war ein Rabbiner, und wie die Nazis so waren, haben sie nicht gesagt, der hat einen Bart, sondern: Der hat einen Sauerkohl. „Schneide den Sauerkohl ab.“
So wie mein Vater das erzählt hat, hat der Rabbiner ihn angeguckt und da kamen meinem Vater die Tränen und er hat gesagt: „Ich kann dem heiligen Mann nicht den Bart abschneiden, das geht nicht.“ Sie haben ihn geprügelt und dann kam er eine Woche in Dunkelhaft. Als er wieder raus kam, war da ein anderer Rabbiner, dem er den Bart schneiden sollte, vielleicht war es auch keiner, zumindest hatte er einen langen Bart und er sagte zu meinem Vater: „Mein Jung, schneide man ab.“ Ja, und das fand ich doch ergreifend.
Am Hemd erkennt man ihn als Menschen
Mein Vater kam, nachdem er 1933 einer der ersten war, die wieder inhaftiert worden sind, in das KZ Wittmoor zum Torfstechen und er wurde so gequält, dass er einen Jochbeinbruch gehabt hat und 14 Tage im Koma lag. Und er sagte: „Meine Kameraden haben mir ein bisschen Suppe und Wasser gegeben, sonst hätte ich nicht überlebt.“ Es gibt ein Bild, wo mein Vater gerade aus dem KZ kam, wo er nur Knochen ist. Er hat ein Unterhemd an, an dem man erkennt, dass er ein Mensch ist. Dann später ins KZ Esterwegen, zwei Jahre Zuchthaus Brandenburg und dann ins Strafbataillon 999.
Jedes Mal am 27. Januar, dem Gedenktag der Befreiung von Auschwitz, stand er vor dem Stadthaus, mit seinen Kameraden, und wollte eine Gedenktafel haben. Anfangs war ich dabei, nachher nicht mehr, ich wollte nicht. Jeder macht eine oppositionelle Zeit mit. Ich war ein Linksliberaler. Das war meinem Vater zuwider.
Er war gegen Ungerechtigkeiten, das ganze Leben lang. Er hat sich immer eingesetzt, etwa für den Kinderschutzbund oder Obdachlose. Für Leute, die arm sind, hat er zu Weihnachten Lebensmittel zusammengesucht und verteilt. Ich habe mich gefragt: Wieso? Er war immer unterwegs und hat wenig Zeit für uns gehabt. Er sagte immer: Den anderen muss ja geholfen werden.
Seine erste Ehe ist im Krieg gescheitert, dann hat er meine Mutter kennengelernt. Wir haben einen Geschäftshaushalt gehabt mit sechs, sieben Angestellten. Der Laden lief. „Bei Baade werden die Frauen hübsch gemacht“, hieß es immer. Es gab kaum freie Zeit, nur mittwochs war sein Ruhetag. Da war er immer aktiv in der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.
Da war er von Anfang an dabei, bis zu seinem Tod, er war auch Ehrenvorsitzender. Andere haben das Leben mehr genossen. Die Tochter von Ernst Thälmann, die war öfters bei uns zu Besuch, und Herbert Wehner als ehemaliger Kommunist war auch mal bei uns, und immer wenn die alten Herren da waren, wurde ich losgeschickt: „Hol’ ein paar Zigarren.“
Die Widerstandskämpfer wurden nicht anerkannt
Die früheren Widerstandskämpfer waren ein Kreis für sich, aber in der Gesellschaft nicht anerkannt. Und das hat mir damals auch schon zu denken gegeben. Warum kann man das nicht mal richtig aufarbeiten? Mein Vater war auch gegen die Nazi-Richter, die hier noch tätig waren, aktiv. Da stand er vor der Tür: „Keine Urteile mehr vom alten Nazi-Richter“ – bis sie dann entlassen wurden, aber das hat sehr, sehr lange gedauert.
Es gibt ein Zitat von ihm: „Mein Junge, für die Demokratie, die wir heute haben, dafür habe ich gekämpft.“ Normalerweise müsste das viel mehr in der Gesellschaft anerkannt werden. Nicht diese Ausgleichszahlung von 150 Euro, die sie gekriegt haben als ehemalige KZler.
Mein Vater hat sehr ein Herz gehabt für Leute, die keine Lobbyisten gehabt haben. Er hat immer gesagt, die Zeugen Jehovas, wobei er hat gesagt „die Bibelforscher“, wenn sie keine Uniform angezogen haben – die sind ja strikt dagegen gewesen – da hat man gar nicht gefragt, die hat man gleich erschossen.
Dann sagte er: Das darf man nie vergessen. Also nicht nur Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, nein, Andersdenkende und besonders seine Bibelforscher, da muss er ein Erlebnis gehabt haben, was ich nie so mitbekommen habe. Er sagte nur: „Wenn die nicht wollten, wurden sie direkt erschossen.“
Wir haben an der Schule auch darüber diskutiert. Einige haben gesagt: „Ja, mein Vater war Nazi“ Und ich habe gesagt: „Meiner hat für die Freiheit und Demokratie gekämpft, die es heute gibt.“ Es ist doch toll, dass es solche Leute gibt, die nicht mit der Masse schwimmen, sondern dagegen.
Mir ist wichtig, dass wir etwas gegen das Vergessen machen. Mein Vater hat das bis zu seinem Tode gemacht, und nachdem er gestorben ist, werde ich das auch weitermachen bis zu meinem Tode. Es ist eine innere Aufgabe, und dann muss man auch mit der Politik streiten, wenn etwas nicht gemacht wird, wie zum Beispiel hier beim Stadthaus in Hamburg.
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