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Skrupellos und irrational

Die rechtspopulistischen Parteien haben in Europa Erfolg, weil sie sich bei den Modernisierungsverlierern anbiedern. Auf diese Weise zerfällt die Gesellschaft

Die extremistischen und populistischen rechten Parteien verzeichnen seit Beginn der 90er-Jahre bei Wahlen in Europa einen deutlichen Aufschwung. Sie sind zu Akteuren in den politischen Systemen ihrer Länder geworden und wildern ausdauernd im Wählerpotenzial aller demokratischen Parteien. Die extreme populistische Rechte und die Wähler, die von ihrem Angebot angezogen werden, wissen, dass ihre Stimmen nicht mehr verloren sind. Die populistischen Parteien sind für viele Wähler attraktiv geworden, weil sie es verstanden, von den „etablierten“ Parteien vernachlässigte Themen wirkungsvoll aufzugreifen.

Es gelang ihnen, den Eindruck zu erwecken, nur sie würden die „wahren Interessen“ des Volkes vertreten. Zu den wichtigsten mobilisierenden Themen gehören: die Amerikanisierung der großen Städte mit der Entstehung von Ghettos und der Ausbreitung von Banden, die wachsende Kriminalität und das Auftreten international operierender Mafias. Hinzu kommen ökologische Bedrohungen, der Rückgang der Nationalsprache, Sittenverfall, Auflösung familiärer Beziehungen, massive unkontrollierte Einwanderung aus Osteuropa und der Dritten Welt sowie die damit verbundenen schwer lösbaren Integrations- und Finanzierungsprobleme (Renten, soziale Sicherung, Ausbildung etc.). Die soziale Modernisierung und die Erhöhung der Mobilität – Auswirkungen der Globalisierung – wird von den Wählern als bedrohend empfunden. Die Berufung auf das „angestammte Volk“ und sein Recht auf den „nationalen Boden“ findet deshalb bei Teilen der Bevölkerung Anklang. Mit buntscheckigen ideologischen Angeboten haben es die Rechtspopulisten verstanden, einfache, klar formulierte Antworten auf komplexe Fragen zu geben.

Die skrupellose Instrumentalisierung kollektiver Ängste, Aversionen und Mentalitäten bildet seit den Neunzigerjahren das Herzstück der Strategie populistischer Parteien. Gleiches gilt für den Appell an den „kleinen Mann“ und an dessen „gesunden Menschenverstand“, der als „natürliches“ Gegengewicht zur „falschen Rationalität“ derer „da oben“ hervorgehoben wird. Mehrere einander ergänzende ideologische Stränge verleihen den politischen Anspracheformen der Rechtspopulisten zwar keine solide ideologische Basis, wohl aber argumentative Schlagkraft in den politischen Auseinandersetzungen. Im Zentrum steht das als Einheit vorgestellte „Volk“. Es handelt sich um eine Kunstfigur, mit der diese Parteien eine reale Homogenität suggerieren. Die antipluralistischen Implikationen dieses identitären Ansatzes sind unverkennbar.

Diese Parteien gehen über die sozialen und politischen Differenzen der Individuen und sozialen Gruppen hinweg und entwerfen stattdessen ein System als „absolut“ und „natürlich“ geltender Werte und Verhaltensnormen. Sie bemächtigen sich des moralischen Rechts der Intervention in das politische Leben und wollen dabei auch andere Wege als den parlamentarischer Repräsentation beschreiten. Hinter der Forderung nach „direkter Demokratie“ (durch Volksinitiativen, Volksbefragungen und Referenden) verbirgt sich der Wille der rechten Parteien, die Mechanismen der repräsentativen Demokratie zu beseitigen.

Die populistische Rechte lehnt den Modernisierungsprozess der europäischen Gesellschaften und die damit einhergehende Individualisierung der Lebensstile und Verhaltensformen ab. Aus ihrer Sicht bringt diese Entwicklung Beklemmung hervor, nährt oft unkontrollierbare Ängste und führt zu individueller Orientierungslosigkeit. Die Partei bietet sich als Auffanggemeinschaft an. Sie stellt den Wählern eine auf der Idee einer nationalen Schicksalsgemeinschaft (gegen die Fremden: Slawen, Neger etc.) basierenden Sicherheitsideologie zur Verfügung. Gegen die verbreitete Akzeptanz einer sozialdarwinistischen Welt versprechen diese Parteien den Menschen, sie zum einen gegen die Härten der Modernisierung zu schützen und sie zum anderen zu Gewinnern des Sozialdarwinismus zu machen. Sie suggeriert ihren Anhängern, alles in den demokratischen Systemen sei falscher Schein, korrumpiert und vorgetäuscht. Die etablierten Parteien werden angeklagt, diese Situation herbeigeführt und sie aus Profitgier zementiert zu haben. Dabei wird das System als solches keineswegs völlig in Frage gestellt. Diese Parteien sind mithin keine revolutionären faschistischen Parteien, wohl aber eine modernisierte Variante der rechtsradikalen Gedankenwelt. Eine Erklärung für die Stärke der populistischen Rechtsparteien bietet das starke Absinken der Parteiidentifikation in den Jahren 1969 bis 1996 und die Herausbildung einer Wählergruppe von etwa 30 Prozent ohne feste Parteibindung. In den meisten Ländern Westeuropas lässt sich die Herausbildung einer „Zweidrittelgesellschaft“ beobachten, in der ein Drittel der Bevölkerung nicht vom sozialökonomischen Modernisierungsprozess profitiert und langfristig von seinen Segnungen ausgeschlossen bleibt – oder ausgeschlossen zu werden fürchtet. Sie radikalisieren sich nur langsam. Ohne Zweifel jedoch profitieren die populistischen Parteien von jenen Wählern, die sich vom Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft in ihrem sozialen Status bedroht fühlen. Frustration und Angst vor ökonomischer Benachteiligung nähren Fremdenfeindlichkeit und begünstigen die Stimmabgabe für die extreme Rechte.

Der Rechtspopulismus beutet überdies weitere Bruchzonen der Gesellschaften aus – wie die Erosion der traditionellen sozialen Milieus und die zunehmende Fragmentierung infolge der wachsenden Individualisierung von sozialen und ökonomischen Risiken. Die Abschwächung religiöser Bindungen geht mit einer Individualisierung von Lebensformen und einer Erhöhung der geographischen Mobilität einher. Der Rechtsextremismus profitiert überdies von der Angst der Männer vor der „Befreiung der Frau“, dem Sichtbarwerden „unkonventionellen“ Sexualverhaltens und den Orientierungsproblemen moralischer und sozialer Art. Die sich lockernden sozialen Bindungen führen zu einer Vervielfältigung von Mentalitäten und egozentrischen Verhaltensweisen, dem Verschwinden sozialer Verantwortlichkeit, zunehmender Isolierung und Einsamkeit – vor allem in den Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte. Gewachsen ist die Zahl der Wähler, die zum Experimentieren neigen und bereit sind, ihre Stimme neuen politischen Formationen zu geben. Davon profitieren die populistischen Parteien. Auch die Integrationsfähigkeit der politischen Systeme entscheidet über Erfolg oder Misserfolg solcher Parteien. Die politische Klasse ist in vielen Ländern Europas in den Geruch eigennütziger Machenschaften geraten. Die Bürokratisierung der politischen Eliten, die wachsende Unfähigkeit, mit dem Bürger in klaren Worten zu kommunizieren – all dies hat die Demokratie geschwächt. Und es den populistischen Parteien erleichtert, sich selbst zum „wahren Anwalt des Volkes“ zu stilisieren.

PATRICK MOREAU

Hinweise:Diese Parteien sind zwar keine revolutionär faschistischen, wohl aber eine modernisierte Variante rechter GedankenHinter der Forderung nach „direkter Demokratie“ steckt der Wille, die repräsentative Demokratie zu beseitigen

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