Skandalheime in Schleswig-Holstein: Strafen statt Schlafen
Eine Zeugin berichtet im Untersuchungsausschuss von ihrer Zeit im Mädchencamp „Nanna“ der Firma Friesenhof. Ein Gutachten bemängelt dessen Konzept.
Am Montag sagte sie vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags in Kiel aus, der sich mit den Vorgängen in den Heimen befasst und darüber hinaus die Frage stellt, ob die Heimaufsicht zu wenig hingeschaut hatte. Darauf deutet ein Gutachten hin, dessen Fazit die Ausschussvorsitzende Barbara Ostmeier verlas. Demnach gab es grundsätzliche Mängel am Konzept des Hauses. Die Kritik: Widersprüche hätten den Jugendämtern auffallen müssen.
Alle paar Tage „Aussitzen“
Manchmal hockten die Mädchen im Alter von zwölf bis 18 Jahren stundenlang zusammen, bis eine aus der Gruppe einen Fehler zugab und die Betreuer zufrieden waren. „Aussitzen“ nannte sich das Ritual, das fast alle zwei Tage im Mädchencamp stattfand, wie die Zeugin berichtete.
Grund zur Strafe fand sich häufig: „Man konnte nichts anderes machen als Fehler“, sagte die junge Frau. Wenn „Aussitzen“ angesagt war, mussten Schulunterricht oder Mittag warten: „Dass es pünktlich Essen gab, habe ich nur selten erlebt.“ Das längste „Aussitzen“ dauerte 36 Stunden, erinnerte sie sich. Solange mussten die Mädchen gemeinsam in einem Raum sitzen und durften nicht schlafen. Grund für die Dauerstrafe war, dass zwei Mädchen fliehen wollten – sie sollten das vor aller Ohren gestehen. „Das wurde bis ins Mini-Detail ausdiskutiert.“
Ähnliche Details hatten bereits mehrere ehemalige Bewohnerinnen der Häuser unter dem Dach des Friesenhofs geschildert, sowohl gegenüber Medien als auch vor dem Ausschuss. Aber der präzise Bericht der 18-Jährigen fasste vieles zusammen und bestätigte bisher gehörte Aussagen über Strafmaßnahmen und Zustände im Haus. Sehr genau schilderte K., wie die Fenster und Türen in dem eigentlich „offenen“ Heim versperrt waren: „Weil Mädels abgehauen waren, wurden die Fenstergriffe abgenommen.“ Nachts waren die Zimmertüren mit einem „Pieper“ abgesichert. Wer zur Toilette wollte, musste klopfen: „Und weil es die Betreuer störte, dass wir nachts so oft raus gingen, mussten wir zur Strafe Liegestütze machen.“
Betreuer verdrehten den Mädchen die Arme
Rafaela K., Zeugin
Sie selbst habe sich nicht klein kriegen lassen, sa gt die junge Frau: „Ich bin Heimkind, mich erschüttert so schnell nichts.“ Den Betreuern habe sie gesagt: „Ihr versucht, ein Ja und Amen zu kriegen, aber da seid ihr bei mir an der falschen Adresse.“Dafür wurde sie unter anderem einen Tag allein in ihr Zimmer gesperrt – „war für mich eher wie Urlaub, man konnte mal schlafen.“ Aber sie berichtete auch von körperlicher Gewalt: So verdrehten Betreuer den Mädchen die Arme oder setzen sich auf die jungen Frauen.
Schöne Erinnerungen an die Zeit im Camp habe die junge Frau nur wenige: „Wir durften mal im Pool planschen oder wenn wir gut gearbeitet hatten, gab es eine Zigarette extra.“
Der Friesenhof hat vor gut einem Jahr Insolvenz angemeldet. Aber seither sind weitere Einrichtungen in Schleswig-Holstein in die Kritik geraten. Ein Jugendhilfe-Anbieter im Kreis Schleswig-Flensburg hatte Fehler eingeräumt und einen Neustart versprochen, ein Heim in Dithmarschen hat allerdings gegen den Entzug seiner Betriebserlaubnis geklagt und vorläufig Recht bekommen.
Die Opposition im Landtag aus CDU, FDP und Piratenfraktion wirft dem Sozialministerium und der dort angesiedelten Heimaufsicht vor, zu wenig Kontrolle ausgeübt zu haben. Als Reaktion auf den Friesenhof-Skandal wurde die Heimaufsicht personell aufgestockt, zudem übernahm die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes auch die Aufgaben einer Ombudsfrau für Heimkinder.
Vom „Eindruck einer unheilvollen Allianz“ zwischen Heim und Kontrollbehörden spricht Mathias Schwabe, Professor für soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule Berlin, in seinem Gutachten über die früheren Zustände. Er will seine Ergebnisse Ende November in Kiel vorstellen – Stoff genug für weitere Sitzungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja