Sizilianische Kindheit: Der Würgegriff lockert sich
Mafiaboss Matteo Messina Denaro wurde Mitte Januar verhaftet. Unsere Autorin wuchs auf Sizilien auf und erlebte seinetwegen ein Klima der Angst.
Es ist keine drei Jahre her, als ich mir in Castelvetrano, im Westen Siziliens, ein Theaterstück mit dem Titel „Ciao Matteo, dove sei?“ (Ciao Matteo, wo bist du?) ansah. Der „Matteo“ des Titels war Matteo Messina Denaro, „Boss der Bosse“ der Cosa Nostra. Er wurde am vergangenen Montag nach dreißig Jahren auf der Flucht in Palermo verhaftet.
Vor Beginn der Aufführung wollten wir noch in einem bekannten Restaurant in der Gegend eine Pizza essen gehen. Wir hatten nicht viel Zeit bis zum Beginn des Stückes und aßen deswegen schnell. Als wir zahlten, machte der Besitzer sich ein wenig über uns lustig. Was denn so wichtig gewesen sei, dass wir die Pizza so eilig heruntergeschlungen hätten, fragte er uns lächelnd. Wir erzählten ihm von dem gleich beginnenden Theaterstück. Als wir den Namen Matteo Messina Denaro erwähnten, verdüsterte sich sein Gesicht. Er sagte: „Wir müssen damit aufhören, schlecht über unsere Heimat zu reden. Das ruiniert das Image der Stadt.“ Wir sagten: „Vielleicht ist es ja auch die Mafia, die unsere Heimat ruiniert.“ Aber das überzeugte unseren Gesprächspartner nicht. Er sagte nur trocken: „Hoffen wir, dass sich niemand dieses Stück ansieht.“
Auch für den Rest Italiens war Montag, der 16. Januar 2023, mit Sicherheit ein denkwürdiger Tag. Für diejenigen aber, die wie ich in der Heimat von Messina Denaro geboren worden und aufgewachsen sind, war es ein Tag der Befreiung. Der Schatten dieses Mannes hat unser Leben verdüstert. Er lag wie ein Albtraum über unserer Kindheit.
Aufwachsen auf einem Minenfeld
Ich bin nur ein paar Kilometer entfernt von Castelvetrano, dem Geburtsort von Messina Denaro, aufgewachsen; und auch ganz in der Nähe von Campobello di Mazara, dem Örtchen, wo Messina Denaro sich all die Jahre erfolgreich versteckt hatte. In Castelvetrano selbst habe ich das Gymnasium besucht. Es ist ein Ort, dessen normale Entfaltung, wie die des restlichen Siziliens, immer durch die erdrückende Präsenz der Mafia verhindert worden ist. Die Auswirkungen dieser mafiösen Präsenz gehen dabei weit über die unmittelbaren kriminellen Handlungen ihrer Mitglieder hinaus. In einer von der organisierten Kriminalität geprägten Gemeinde aufzuwachsen bedeutet, mit dem Wissen groß zu werden, dass man eine Reihe von Dingen nicht tun kann oder dass man zumindest dazu bereit sein muss, viele Kompromisse einzugehen, um sie zu tun.
Schon als Kind war mir zum Beispiel klar, dass ich in meiner Heimat nie ein eigenes Unternehmen gründen würde. Ich hatte einfach zu viele Geschichten von Unternehmern und Ladenbesitzern gehört, die gezwungen wurden, Schutzgeld zu zahlen. In meiner kindlichen Vorstellung war die Welt der Selbstständigen aufgeteilt in diejenigen, die Schutzgeld zahlten und sich damit der Mafia unterwarfen, und diejenigen, die getötet wurden, weil sie das nicht wollten. Ich wollte mich weder der Erpressung der Mafia unterwerfen noch sterben und beschloss deswegen, jede Branche, die mich in diese unangenehme Situation bringen könnte, zu meiden.
Ich hatte das Gefühl, auf einem Minenfeld aufzuwachsen. Meine Sozialisierung umfasste wie bei allen sizilianischen Kindern die ständige geschärfte Aufmerksamkeit, Strategien dafür zu entwickeln, keine der Minen auszulösen. Es gab Dinge, über die man besser nicht sprach, Orte, die man besser nicht aufsuchte, Blicke, die man besser nicht erwiderte, Menschen, die man besser nicht traf.
Diese Art der Sozialisierung bedeutet natürlich keineswegs, dass alle sizilianischen Unternehmer und Kaufleute den Pizzo zahlen oder tot sind. Wie bei allen übermächtigen Formen der organisierten Kriminalität liegt der Erfolg der sizilianischen Mafia darin, dass sie auch die Mentalität und Handlungen derjenigen prägt, die nicht zu ihr gehören. Sie bringt sie dazu, sich so zu verhalten, als müssten sie sich ständig mit dieser Macht auseinandersetzen, auch wenn sie ihr nicht direkt begegnen.
Zu den vielen, gar nicht mehr bewusst reflektierten, wie selbstverständlich angewandten Strategien, den von der Mafia gelegten Minen zu entgehen, gehört auch eine besonders bittere: Sizilien zu verlassen. Eine Entscheidung, die viele von uns getroffen haben und die, wie schon beschrieben, natürlich nicht alternativlos ist. Man kann in Sizilien bleiben und sehr gut und kompromisslos leben, was glücklicherweise viele tun. Das Weggehen ist nicht einmal eine vollkommen bewusst getroffene Entscheidung, die explizit mit der Mafia verbunden wäre. Es ist einfach eine der Optionen, die sich für diejenigen, die in diesem Land geboren sind, selbstverständlich anbietet.
Die Mafia ist noch lange nicht besiegt
Ich habe Sizilien nicht verlassen, weil ich ein konkretes Problem mit der Mafia hatte, das mich daran hinderte, das zu tun, was ich tun wollte. Ich bin zunächst fast zufällig weggegangen, habe in Rom studiert, um Erfahrungen zu sammeln. Dann haben mich die Wechselfälle des Lebens einige Jahre dort gehalten und schließlich nach Deutschland geführt, wo ich heute lebe. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass mir immer präsent war, wie sehr die Mafia meine Heimat im Würgegriff hat und dass dieser Punkt bei all meinen Lebensentscheidungen eine unbewusste Rolle gespielt hat.
Die Verhaftung von Matteo Messina Denaro lockert diesen Würgegriff der Mafia, doch der Weg zur vollständigen Befreiung ist noch weit. Wie der ehemalige Staatsanwalt von Palermo, Roberto Scarpinato, heute im Senat in Rom nicht müde wird zu betonen, sind Messina Denaro, wie auch die bereits früher verhafteten und in Hochsicherheitsgefängnissen verstorbenen „Bosse der Bosse“ Toto Riina und Bernardo Provenzano „nur“ der bewaffnete Flügel der Mafia.
Ihre andauernde Stärke liegt aber in den engen Beziehungen, die sie mit den sogenannten White Collars und politischen Kräften knüpft – der berühmten „Grauzone“ (zona grigia). Sie schafft es noch immer, sich dem Zugriff der Justiz weitgehend zu entziehen. Solange diese Verbindungen nicht gekappt werden, ist die Mafia nicht besiegt. Auf einen verhafteten Messina Denaro werden neue Bosse oder ein anderes Gremium folgen, das seine Funktionen übernimmt.
Der Kampf gegen die Mafia muss zudem auf europäischer Ebene ausgefochten werden. Es besteht zwar kein Zweifel daran, dass einige Dynamiken eng mit ihrem Ursprungsgebiet verbunden sind, aber die Mafia lebt von gewaltigen Geschäften, deren Erlöse sehr oft außerhalb Siziliens und Italiens reinvestiert werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist Deutschland mit seiner für die Mafia durchlässigen Gesetzgebung ein idealer Ort, um das erwirtschaftete Kapital aus den schmutzigen Geschäften zu waschen.
Die Probleme zu verschweigen hilft nicht
Meine Hoffnung setze ich vor allem auf die junge Generation. Eine Theateraufführung, wie diejenige, der ich dann – trotz der Verwünschungen des Gastronomen – beiwohnte, wäre einige Jahre zuvor wohl noch undenkbar gewesen. Ebenso undenkbar wie die Tatsache, dass Enzo Alfano, der Bürgermeister von Castelvetrano, mit im Publikum saß.
Viele fragen sich, wie Matteo Messina Denaro, der meistgesuchte Kriminelle Italiens, dreißig Jahre lang ungestört in Sizilien leben konnte. Die Antwort findet sich in den Worten des Wirts wieder, die die ganze kriminelle Macht der Mafia zum Ausdruck bringen. Es geht um Kontrolle des Territoriums, der wirtschaftlichen Aktivitäten und des politischen Handelns. Eine Kontrolle, dank der um den Boss herum ein Netz der Komplizenschaft und der Omertà gezogen wurde. Es ermöglichte ihm nicht nur, sich jahrelang der Verhaftung zu entziehen, sondern auch weiter zu herrschen.
Aber dieses Netz hat nun große Löcher bekommen. Das ist zum einen dem unermüdlichen Einsatz der Richter und Ordnungskräfte zu verdanken, zum anderen aber auch den jungen Theaterleuten, die vor drei Jahren mitten in Castelvetrano laut den Namen von Messina Denaro riefen. All jenen also, die wissen, dass es nicht das Sprechen über die Mafia ist, was Sizilien schadet – sondern das Schweigen über sie.
Aus dem Italienischen übersetzt von Ambros Waibel
Die Autorin gehört der Chefredaktion der linken italienischen Zeitschrift MicroMega an, wo der Text in einer kürzeren Fassung erschienen ist
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen