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Situation in der OstukraineVorboten russischer Besetzung

Im ostukrainischen Donbas wird die Lage für die verbliebenen Bewohner immer gefährlicher. Die russische Armee rückt näher, die Luftangriffe nehmen zu.

In Slowjansk werden viele durch russische Angriffe zerstörte Fenster nicht mehr erneuert, sondern durch Spanplatten ersetzt Foto: Jose Colon/Anadolu Agency/imago

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Artem Perfilov aus Slowjansk und Mykilske

Die ostukrainische Stadt Pokrowsk ist aufgrund des massiven Vorstoßes der russischen Armee in die „graue Zone“ geraten. Aktuell sind bereits drei Viertel des Gebietes Donezk unter russischer Kontrolle. Im Zentrum des Widerstandes befindet sich derzeit der Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk-Druschkiwka-Kostjantyniwka. Kostjantyniwka ist zerstört, Druschkiwka unter permanentem Beschuss. Nach Kramatorsk fliegen die unterschiedlichsten Drohnen. Nur Slowjansk ist noch ein vergleichsweise „sicherer“ Ort. Aber wie lange noch?

Ich habe das Angebot, zum Arbeiten in den Donbas zu fahren, nicht sofort angenommen. Zuerst habe ich fünf Minuten darüber nachgedacht. Aber dann war mir klar: Als Journalist muss ich dahin. Das Problem ist nur, dass der Süden und der Norden des Donbas mit russischen FFP-Drohnen beschossen werden, die eine immer weitere Reichweite haben.

Außerdem verwendet die russische Armee mittlerweile reaktive Drohnen der Typen Lancet und Molnyja. Es gab schon Berichte, dass Journalisten 35, 40 Kilometer von der Front entfernt angegriffen wurden. Erst kürzlich wurde ein Auto ukrainischer Journalisten in Kramatorsk durch Drohnen angegriffen. „Fahr bloß nicht durch Kramatorsk, da fliegen schon russische FPV-Drohnen“, erklärt mir ein tschechischer Journalist. Dann verrät er mir die richtige Route.

Straßen unter Drohnenbeschuss, Zugverkehr eingestellt

Zwar sind die wichtigsten Straßen im Donbas und sogar schon im Gebiet Charkiw bereits mit Anti-Drohnen-Netzen ausgestattet, ist es sehr unklar, wie sicher dieser Schutz wirklich ist. Um nach Slowjansk zu kommen, nehme ich eine Landstraße. Nicht die beste, aber dafür kam ich ohne Zwischenfälle an.

Foto: planet neun

Der Zugverkehr in den Donbas wurde übrigens schon eingestellt: Der Zug „Kyjiw-Slowjansk“ mit meinen Kollegen an Bord fuhr nur noch bis Barwinkowe im Gebiet Charkiw.

In Slowjansk hingegen herrscht noch immer reges Leben. Die Straßen sind voller Autos, Cafés, Supermärkte und Haushaltswarengeschäfte sind geöffnet. Besonders beliebt sind die Orte, an denen man gut und günstig essen kann. Aber die Zahl der russischen Angriffe steigt, immer mehr Fenster und Balkone werden nicht mehr instandgesetzt, sondern nur noch mit Sperrholzplatten vernagelt.

Ausgangssperre ab neun Uhr abends

„Im Allgemeinen hat sich die Situation in den letzten zwei, drei Monaten verschlechtert, es gibt mehr Beschuss, mehr Shahed-Drohnen. Die Russen üben starken Druck auf den Donbas aus und wollen ihn so schnell wie möglich ganz einnehmen“, sagt Artem, dem hier ein Café gehört. „Aber noch gibt es hier Leben und Arbeit. Ich denke, es wird noch lange dauern, bis die Russen kommen. Wir haben Zeit. Wenn sie noch näher kommen, wenn hier in Slowjansk die Ausgangssperre verlängert wird und noch mehr Leute wegziehen, dann werde ich auch gehen“, meint er.

Obwohl es in Slowjansk noch ein offenes Hotel gibt, sollte man dort besser nicht übernachten. Im Donbas ist das zu gefährlich, denn sie werden regelmäßig und gezielt beschossen, sogar mit Raketen. Allerdings gibt es auch in den Wohnungen, in denen wir Journalisten unterkommen, keine Sicherheitsgarantien. Nebenan wurde ein großes Wohnhaus getroffen, das Dach und ein Teil der Wände sind eingestürzt.

Auch in „unserem“ Haus sind einige Fenster durch Druckwellen kaputt gegangen. Um neun Uhr abends beginnt die Ausgangssperre, deshalb versuchen wir schnell, vorher noch etwas zu essen zu bekommen. Nach Einbruch der Dunkelheit bemühen sich die Menschen, möglichst wenig Licht in ihren Wohnungen zu nutzen, um kein Ziel der Drohnen zu werden. Auch wir schalten das Licht aus und hören von Ferne Geschützdonner. Gegen Mitternacht ist eine laute Explosion in der Nähe zu hören. Erst am Morgen lesen wir in den Nachrichten, dass eine KAB-Präzisionsbombe in einem Wohngebiet in Kramatorsk eingeschlagen ist. Einige Zivilisten sind dabei ums Leben gekommen.

Slowjansk nach russischem Luftangriff mit KAB-Bomben, 31. Oktober 2025 Foto: Jose Colon/Anadolu Agency/imago

Menschen wollen ihr Dorf nicht verlassen

Das kleine Dorf Mykilske in der Nähe von Slowjansk leben in einem anderen Rhythmus. Die meisten jungen Menschen haben das Dorf verlassen, aber die, die geblieben sind, können sich ein Leben woanders nicht vorstellen. Seit 2022 sind die Kriegsgeräusche hier ununterbrochen zu hören, die Frontlinie war schon einmal auf 10 Kilometer herangerückt, aber nach ukrainischen Gegenangriffen liegt sie jetzt 25 Kilometer entfernt.

Aber der Beschuss geht weiter. Gerade war es wieder besonders stark: „Die letzte Nacht war schrecklich. Es gab Beschuss mit Streumunition, Häuserdächer wurden zerstört. Warum? Dort gab es keine Soldaten, nur Zivilisten. Vielleicht war es keine Absicht, vielleicht doch gezielt? Jetzt müssen wir uns wie Hasen im Keller verstecken. Niemand will hier weg“, berichtet Nataliya aus Mykilsk.

Die Bewohner leben trotzdem weiter ihren Alltag. Sie arbeiten im Gemüsegarten, harken Laub und tratschen. „Wie ist hier bei Ihnen die Lage?“, frage ich. „Sind die Menschen hier in Panik wegen des russischen Vormarsches?“ „Panik gibt es hier dauernd“, sagt eine Frau um die fünfzig lachend.

Der gesprächige alte Vasyl hingegen macht sich überhaupt keine Sorgen über die aktuellen Ereignisse. Er spricht lieber über die Vergangenheit, über Spuren des Zweiten Weltkrieges in der Gegend. Hier auf den Hügeln hat er früher mit anderen Kindern in den ehemaligen sowjetischen Bunkeranlagen und Schützengräben gespielt. Sie fanden auch Kisten mit Minen und verrostete Waffen. Dafür gab es schon mal Schläge mit dem Lineal in der Schule.

Der aktuelle ukrainisch-russische Krieg beunruhigt ihn nicht sehr. „Meine Tochter und mein Enkel leben in Russland. Und meine Enkelin mit meinem Urenkel“, erzählt Vasyl. „ Wovor soll ich Angst haben? Vor Beschuss? Ich war lange in der Armee, ich bin das gewohnt. Wenn die Russen kommen, was sollen sie mir schon tun? Ich bin jetzt 84, ich weiß, wie ich mit ihnen reden muss …“, meint der alte Mann.

Nach wie vor gibt es keine einheitliche Meinung oder Prognose darüber, ob Russland den gesamten Donbas erobern wird. Der Kreml fordert sogar Gebiete, die sie unmöglich eroberen können. Offiziell lehnt die Ukraine das ab. Einfache Soldaten und die Zivilbevölkerung sind zu etwa gleichen Teilen in pro und contra gespalten. Aber die Spannung nimmt zu. Ausländische Sicherheitsexperten raten Kriegsberichterstattern, nicht mehr über Reisen in den Donbas nachzudenken. Als ich aus Slowjansk abfuhr, hatte ich das ungute Gefühl, dass es für immer sein könnte. Hoffentlich irre ich mich.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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