Situation in Gaza im Nahostkrieg: Kein Ort zum Leben
In Gaza kommen wieder mehr Hilfsgüter an. Sonst bleibt den Menschen kaum Hoffnung. Viele wollen ausreisen, müssen dafür aber sehr viel Geld zahlen.
Es gibt sie wieder. Bananen. Gurken. Hühnchen. Auf den Märkten in Gaza liegen frische Lebensmittel aus, zumindest vorläufig. Seit einigen Tagen kommen bedeutend mehr Hilfslieferungen in den Gazastreifen, und auch wenn die UN und Israel sich in den genauen Zahlen der einfahrenden Lastwagen nicht einig sind, steht fest: Der Effekt ist unter der Bevölkerung zu spüren.
Zwar liegen die Preise weiterhin bei einem Vielfachen des Vorkriegspreises, doch sie sinken wieder: Kostete ein Kilo Bananen in der vergangenen Woche noch mehr als umgerechnet 10 Euro, sind es nun rund 6 Euro.
„Ich hoffe, es geht so weiter“, sagt Bashir al-Ankah, der mit seiner Familie aus dem Norden Gazas nach Deir al-Balah geflohen ist, am Telefon. Chris Whitman von der Menschenrechtsorganisation Medico, der von Ramallah aus in Kontakt mit seinen Partnerorganisationen im Gazastreifen steht, betont, es sei zu früh für eine Entwarnung: „Noch immer hungern viele Menschen in Gaza“, so Whitman, „Was dort benötigt wird, ist ein beständiges und nachhaltiges Hilfsprogramm, das nicht von Israel behindert oder kontrolliert wird.“
Menschenrechts-NGOs warnen seit Monaten vor einer Hungersnot in Gaza. Die Zahlen des IPC, des international anerkannten Instruments zur Feststellung von Hungerkrisen, vom März 2024 sagen: 1,5 Millionen Menschen befinden sich in den höchsten zwei Stufen des Warnsystems für die Hungersnot – besonders viele sind es im Norden von Gaza, wohin Israel bis vor wenigen Tagen nur wenige Lastwagen mit humanitärer Hilfe passieren ließ. Vor allem unter kleineren Kindern gab es bereits einige Hungertote.
Der Umschwung in der israelischen Politik zur Versorgung des Gazastreifens mit Hilfslieferungen kam auf Druck aus dem Weißen Haus, nachdem sieben Mitarbeiter*innen der Hilfsorganisation World Central Kitchen durch israelisches Feuer getötet wurden. In einem angespannten Telefongespräch erklärte US-Präsident Joe Biden dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Israel sofortige Maßnahmen ergreifen müsse, um das Leben von Zivilist*innen zu schützen und die Einfuhr von Lebensmitteln in den Gazastreifen zu ermöglichen.
Seitdem rollen also die Lastwagen, 95 Prozent kommen über den südlichen Grenzübergang. Der erste Halt ist damit die Stadt Rafah, in der rund eineinhalb Millionen Menschen, drei Viertel der Bevölkerung von Gaza, Zuflucht suchen und auf engstem Raum gedrängt leben.
Viele der Hilfslieferungen, die für den nördlichen Gazastreifen bestimmt waren, hat das israelische Militär in den vergangenen Wochen nicht passieren lassen. Seit einigen Tagen kommen jedoch auch Hilfslieferungen von einem neu eingerichteten Übergang aus in den Norden Gazas. Chris Whitman von Medico fürchtet jedoch, dass die Lieferungen schleichend wieder verringert werden könnten und in einigen Wochen der gleiche Zustand herrschen könnte wie im März.
Deal über eine Feuerpause
Die größte Unsicherheit, die die Menschen in Gaza derzeit umtreibt, ist die Frage, ob es zu einer israelischen Militäroffensive in Rafah kommen wird oder nicht. Der Rückzug eines großen Teiles der Bodentruppen hat einerseits Hoffnungen geweckt, dass ein Ende des Krieges bevorsteht oder zumindest ein Deal über eine Feuerpause, die in einen Waffenstillstand übergehen könnte. Andererseits wissen die Gazaner:innen um Israels Versicherung, dass der Rückzug lediglich einer Neuorganisierung der Truppen diene.
Seitdem kommen widersprüchliche Nachrichten: Benjamin Netanjahu verkündete in einer Videobotschaft, der Termin für eine Offensive in Rafah stehe fest. Das israelische Militär vermutet, dass vier Bataillone der Hamas in der südlichen Stadt stationiert sind und sich Hamas-Anführer dort versteckt halten.
Möglicherweise werden auch einige der israelischen Geiseln dort festgehalten. Doch kurz nach Netanjahus Ankündigung widersprach Verteidigungsminister Joaw Gallant: Ein Termin stehe nicht fest.
International werden die Warnungen vor einer Offensive in Rafah immer lauter. Besonders bedeutend für den weiteren Verlauf des Krieges dürfte der Konflikt zwischen US-Präsident Biden und Netanjahu sein, der zunehmend öffentlich ausgetragen wird. Das Weiße Haus ist entschieden gegen eine breite Offensive in Rafah. Der israelische Evakuierungsplan sei nicht durchführbar.
Währenddessen zogen kurz nach dem israelischen Abzug Tausende von Rafah zurück in ihre Heimatstadt Chan Junis. Denn aus der südlich gelegenen Stadt zog das israelische Militär komplett ab. Die Truppen, die noch im Gazastreifen verbleiben, sichern nun vor allem die Trennung des Gazastreifens in ein nördliches und ein südliches Gebiet ab.
Die Rückkehr nach Chan Junis diente den meisten Menschen dazu, nach ihren Häusern zu sehen. Für viele war das, was sie sahen, ein Schock: Rund 55 Prozent der Gebäude – insgesamt rund 45.000 – sollen entweder schwer beschädigt oder völlig zerstört sein, so zeigen es nach Angaben der Kartierungsexpert:innen Corey Scher und Jamon Van Den Hoek Satellitenbilder, mit denen die beiden die Zerstörung seit Beginn des Krieges nachverfolgen.
Das Geschäft mit der Flucht
Auch Teile von ziviler Infrastruktur wie Wasserleitungen sind demnach unbrauchbar gemacht. „Auf der Suche nach einem Unterschlupf ziehen einige, die ihr Haus verloren haben, vorläufig in derzeit unbewohnte Häuser ein, die nicht ihnen gehören“, berichtet Whitman. Ob die Situation in Chan Junis so ist, dass die Rückkehrer*innen in ihrer Heimatstadt bleiben und dort leben können, bleibe abzuwarten.
Nach wie vor ist das erklärte Ziel der allermeisten Gazaner:innen, das Kriegsgebiet so schnell wie irgend möglich zu verlassen. Zwar sind die Grenzübergänge sowohl nach Israel als auch nach Ägypten geschlossen, aber wer genug Geld auftreiben kann, den setzt verschiedenen Medienberichten zufolge eine Reiseagentur aus Kairo – Anbieter ist die Reiseagentur Hala Consulting and Tourism Service – auf eine Liste und ermöglicht so am Ende allen geschlossenen Grenzen zum Trotz doch die Ausreise nach Ägypten.
„Koordinationsgebühren“ heißen die zu zahlenden Gelder in der ägyptischen Bürokratie. Und die sind horrend. Pro Person sind es zwischen 5.000 und 6.000 Dollar, die die Menschen aufbringen müssen, um auf die Liste zu kommen. Wenn es besonders schnell gehen soll, kommen noch einige tausend Dollar hinzu.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Viele derjenigen, die den Gazastreifen verlassen wollen, versuchen über Crowdfunding-Plattformen an das benötigte Geld zu kommen. Meist geschieht das über die amerikanische Crowdfunding-Plattform gofundme. An sie fließen pro Spende jeweils 2,9 Prozent des Betrags.
Wer das Geld nicht zusammentreiben kann, harrt in Rafah aus, so wie beispielsweise Mohammed Mousa. Seine Frau und seine vier Kinder sind mittlerweile in Kairo. Für ihn hat das Geld vorerst nicht gereicht. „Ich bete jeden Tag, dass ich hier vor einer Militäroffensive herauskomme und zu meiner Familie kann“, schreibt er und fügt hinzu: „Ich kann nicht aufhören zu weinen.“
Nach wie vor können internationale Journalist:innen nicht nach Gaza reisen, um sich selbst ein Bild von der Situation dort zu machen – abgesehen von einzelnen vom israelischen Militär organisierten Fahrten in das Kriegsgebiet. In unserer Kolumne „Gaza-Tagebuch“ holen wir deswegen Stimmen aus dem Gazastreifen ein, um dennoch möglichst nah heranzukommen. Teils schreiben die Autor:innen ihre Geschichten selbst, teils entstehen die Protokolle auf der Basis von Telefoninterviews.
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