Sinologe über chinesische Taiwan-Politik: „Taiwan ist ein politisches Labor“
China gibt keine Ruhe, wenn es um die territoriale Integrität des kleinen Nachbarn geht. Hans-Peter Hoffmann über den Status Quo des Landes, Proteste und die USA.
taz: Herr Hoffmann, in Hongkong flammten unter dem Stichwort „Occupy Central“ im letzten Jahr immer wieder Proteste auf. Hongkonger Studenten demonstrierten gegen Pekings Eingriffe in das Wahlrecht und für freie Wahlen. Wie wird in Taiwan auf die Proteste auf dem Festland reagiert?
Hans Peter Hoffmann: Die politisch bewusste Jugend in Taiwan weiß die Freiheit und die Freiheiten, die die Demokratie gebracht hat, sehr zu schätzen. Sie hat genau beobachtet, was in Hongkong los war. Denn wie China nun in Hongkong mit den Studenten umgeht, zeigt auch, wie man unter Umständen mit taiwanesischen Studenten umgehen würde, sollte es einmal zu dem allseits gefürchteten Zugriff aus Peking kommen.
Hongkong war lange Zeit eine britische Kolonie und wurde 1997 an China zurückgegeben. Im Gegensatz zu Hongkong ist Taiwan aber ein eigenständiger Staat. Trotzdem möchte Peking auch das kleine Taiwan gerne in die Volksrepublik eingliedern?
Mit dem Wort „eingliedern“ wäre ich vorsichtig. Die Rückgabe Hongkongs war ja schließlich kein martialischer Akt, sondern die vertragsgemäße Rückgabe einer Kolonie durch eine Kolonialmacht. Hongkong hat bis heute eine Sonderstellung innerhalb der Volksrepublik. Es ist eine Sonderverwaltungszone, und man vereinbarte 1997 für eine Übergangszeit von 50 Jahren, nach der Philosophie „Ein Land, zwei Systeme“ zu leben. Das selbstständige Taiwan hingegen hatte 1992 mit China eine andere, typisch chinesische Sprachregelung für das gemeinsame Verhältnis gefunden, nämlich „Ein Land, zwei Interpretationen“.
Das heißt: Beide Seiten stimmten darin überein, dass es nur ein China gibt, aber es bestand Uneinigkeit darüber, wer es vertritt. Das ist also ein nur scheinbarer Konsens, dessen Sollbruchstellen immer sichtbarer werden. Im November sprach deshalb die die Tageszeitung Taipei Times karikierend von „Ein Konsens, zwei Interpretationen“.
Die Kuomintang regierte Taiwan bis 1987 unter Kriegsrecht. Im Jahr 2000 kam mit Chen Shui-bian dann erstmalig ein Präsident der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) an die Macht, womit eine intensive „Taiwanisierung“ einherging. Das heißt: Taiwanesen empfanden sich nicht mehr als Chinesen, sondern genuin als Taiwanesen. Dass die Volksrepublik nicht mehr im mentalen Fokus stand, war bahnbrechend. Mit Ma Ying-jeou ist seit 2008 allerdings wieder ein KMT-Präsident am Ruder, der die Nähe zu China sucht. Wie steht es aktuell um ihn und die KMT?
Ma Ying-jeou versprach 2008 einen gemäßigteren China-Kurs als unter seinem Vorgänger Chen Shui-bian. Deshalb wurde er gewählt. Mittlerweile aber erscheint vielen, vor allem den jüngeren Leuten, Mas Kurs zu chinafreundlich. Und auch die wirtschaftlichen Erfolge sind ausgeblieben, die für Taiwan wichtig sind und die man von Ma erwartet hatte. Entsprechend wurde die KMT bei den Kommunalwahlen Ende November empfindlich abgestraft. Wobei diesmal auch der rigide Umgang mit den taiwanischen Studentenprotesten im Frühjahr eine Rolle gespielt haben mag.
Nicht nur in Hongkong, sondern auch in Taipeh haben 2014 die Studenten massenhaft protestiert. Im März besetzten sie sogar für gut drei Wochen das Parlament. Die sogenannte Sonnenblumen-Bewegung protestierte gegen das „Rahmenabkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (ECFA). Was ist das Problem bei diesem Abkommen?
lebte und arbeitete in den letzten fünf Jahren in Taiwan. Der Sinologe lehrte an der Fu-Jen-Universität in Taipeh und übersetzte mehrere umfangreiche Bücher ins Deutsche, unter anderem von Liao Yiwu. Im Sommer 2014 erhielt er einen Ruf an die Universität Mainz. Dort leitet er seitdem den Arbeitsbereich Chinesisch im Germersheimer Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft.
Das Abkommen ermöglicht den Austausch von Dienstleistern und Dienstleistungen zwischen der großen Volksrepublik und dem kleinen Taiwan. Deshalb befürchten die Taiwanesen, dass ihr Land von Chinesen überschwemmt wird, die ihre Dienstleistungen zu Dumpingpreisen anbieten. Außerdem weiß man, dass die Volksrepublik taiwanesische Medien kauft oder zu kaufen versucht, was die Taiwanesen sehr beunruhigt. Die Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit hat in den letzten zwei Jahren zu entsprechend vielen Demonstrationen geführt. Ich persönlich finde das übrigens immer noch sehr erstaunlich.
Wieso erstaunlich?
Ich kam 1979 zum ersten Mal nach Taiwan. Damals stand das Land noch unter Kriegsrecht, und an Demonstrationen war nicht einmal zu denken. Da ich erst 2009, also dreißig Jahre später, beruflich wieder nach Taiwan zog, sehe ich das Land immer noch ein wenig vor dem Hintergrund von 1979, und dieser Kontrast ist mehr als erstaunlich: Taiwan hat seither wirklich eine enorme politische Entwicklung durchgemacht.
Trotzdem lebt Taiwan bereits seit Jahrzehnten in einem Status quo. Das heißt: Die rund 400 km lange und 150 km breite Insel ist ein eigenständiger Staat, wird aber auf Druck der Volksrepublik von den meisten Ländern auf der Welt nicht als solcher anerkannt. Auch nicht von Deutschland. Deshalb ist Taiwan in vielen internationalen Organisationen nicht vertreten. Wie haben Sie diesen Status quo in den Jahren erlebt, in denen Sie in Taiwan gewohnt haben?
Im Alltag denken die Taiwanesen natürlich nicht dauernd darüber nach, aber der Status quo ist bedrückend und mehr oder weniger ständig präsent. Eine Hinwendung zu offensiver Eigenständigkeit würde, so die einhellige Ansicht, von Peking niemals toleriert werden. Meine Studenten haben deshalb immer wieder diskutiert, was zu tun wäre, würde die Volksrepublik eines Tages in Taiwan einmarschieren. Ich weiß noch, dass ein junger Mann, der frisch aus dem Militärdienst entlassen worden war, es indiskutabel fand, sich nicht zu Wehr zu setzen. Andere aber meinten, Taiwan sei zu klein und militärischer Widerstand ohnehin zwecklos.
Andere Szenarien spielten in diesen Diskussionen übrigens keine Rolle. Etwa eine doch zumindest denkbare Demokratisierung Chinas, von der man zum Beispiel in den Aufsätzen des inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo liest, oder einfach eine wirklich langfristige und stabile Fortführung des Status quo. Die eingestandene und uneingestandene Angst in Taiwan ist groß. Und allgegenwärtig. Darüber hinaus ist es vor allem für junge Taiwanesen und Taiwanesinnen ausgesprochen frustrierend und ein großes berufliches Hindernis, dass ihr Land als solches offiziell nicht existiert. Ein taiwanesischer Freund, der versuchte, im Ausland zu arbeiten, fasste es einmal in dem Satz zusammen: „A Taiwanese passport is nothing but a piece of shit!“
Hat ein eigenständiges Taiwan eigentlich keine Vorteile für die Volksrepublik?
Doch, natürlich. Taiwan ist ja auch ein politisches Labor, ein Experimentierfeld, ein Spiegel für China und eine Reibungsfläche. Denn in Taiwan werden Dinge ausprobiert, die in der Volksrepublik nicht oder kaum zugelassen werden. Also: Demokratie und Zivilgesellschaft. Peking sagt offiziell zwar immer, die Demokratie sei ein Produkt der westlichen Kultur und widerspreche der chinesischen Tradition, aber genau das wird ja in Taiwan widerlegt. Dort lebt ein chinesisches Land die Demokratie. Und diese Erfahrungen könnten durchaus auch für das große China einmal nützlich werden.
Würden die USA Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs zur Seite stehen, wie es der US-„Taiwan Relations Act“ vorsieht?
Schwer zu sagen. US-Präsident Obama betont stets den Führungsanspruch der USA im pazifischen Raum. Er hat in den letzten Jahren auch intensiv und erfolgreich um asiatische Verbündete geworben, um einen geografischen Schutzwall vor China aufzuziehen. Ein Konflikt mit China scheint mir vorprogrammiert. Und hier hat und hätte die Insellage natürlich eine enorme strategische Bedeutung. Andersherum stellt sich aber auch die Frage: Wäre China bereit, für Taiwan einen Krieg mit den USA in Kauf zu nehmen? Vielleicht ist es ja gerade diese prekäre Lage, die den Status quo in Taiwan zur langfristigen Lösung macht.
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