Singen hinter Gittern: Trotz‘ dem alten Drachen

Der Chor in der Hamburger Untersuchungs- haftanstalt ist die Stütze des Gottesdienstes, er ist ein Ort der Heiterkeit und eine Flucht aus einem Alltag, der die Männer an ihre Grenzen bringt

Musik sei eine flüchtige Kunst, sagt Chorleiter Yotin Tiewtrakul, und das wohl erst recht in der Untersuchungshaftanstalt. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Es dauert, bis die Männer in den Bankreihen leise werden. Es dauert eine ganze Weile. Es ist Sonntagnachmittag, der Chor steht vorne beim Flügel, Hallelujah von Leonard Cohen werden sie singen, von der Sehnsucht nach einer Frau und dass es schief gegangen ist. Die Männer hier kennen beides, wie sollten sie nicht: Sie sind Untersuchungshäftlinge.

Die Kirchentür in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis in Hamburg muss man suchen. Es geht durch lange Flure mit dunklen Holzschnitzereien, durch ein Treppenhaus, dessen Öffnungen mit Drahtgittern abgesichert ist, vorbei an einer blinkenden Messingglocke – nein, sie ist nicht für erfreuliche Anlässe gedacht, sagt der Vollzugsbeamte –, vorbei an einem Glasverschlag, in dem seine Kollegen Dienst tun. Rechts davon ist eine schwere graue Stahltür. „Kirche“ steht in schwarzen Blockbuchstaben darauf.

Es ist eine sehr sachliche Tür und zugleich vermittelt sie eine gewisse Wichtigkeit, zumindest wenn man annimmt, dass „Kirche“ dort steht, weil Leute danach suchen, weil sie dringend dorthin wollen. Aber das ist wieder eine dieser Verklärungen von außen: In der Justizvollzugsanstalt läuft niemand lange alleine herum. Und zur Frage der Dringlichkeit ist später noch etwas zu sagen.

Die graue Kirchentür öffnet sich zu einem großen Saal, turnhallengroß ist er, mit einem graublauen Teppich, der zum Altar führt und einer hohen rot-goldenen Wand dahinter. Es ist ein festlicher Raum, selbst die Gitter hinter den hohen Fenstern sind so unauffällig hinter den Sprossen, dass sie nicht direkt „Gefängnis, Gefängnis“ rufen. Man muss einen Antrag stellen, um den Gottesdienst am Sonntagmittag besuchen zu dürfen und man muss einen Antrag stellen, um Mitglied im Gefängnischor werden zu dürfen. Derzeit sind acht Männer dabei, vier Plätze sind noch frei.

„Ist Herr Schmieder* da?“, fragt er Gunhild Warning, die Pastorin am Untersuchungsgefängnis. Warning, eine energische,blonde, schmale Frau, sagt: „Er war in der Transportzelle.“ „Oh, schade, er wollte ein Lied schreiben“, sagt Yotin Tiewtrakul. Musik sei eine flüchtige Kunst, findet er und das stimmt hier auf unvorhersehbare Weise. Wer bei der letzten Chorprobe noch dabei war, ist bei der nächsten vielleicht beim Anwalt, im Prozess oder in der Vater-Kind-Gruppe. Immer von halb vier bis fünf Uhr am Donnerstag ist Probe, heute beginnen sie mit „Jesu, meine Freude“, weil es die Pfarrerin im nächsten Gottesdienst singen lassen will.

Die Chormänner kommen herüber

Sechs Männer sind gekommen, zwei haben keine Lust, jemandem von der Presse zu begegnen. Die meisten tragen Turnschuhe und Freizeitsachen, einer sticht heraus, mit Stoffhose, Wollpullover und Brille, man würde sich ihn in einem Büro mit Vorzimmerdame oder auf einem Golfplatz vorstellen. Zur Begrüßung kommen die Chormänner durch die Bankreihen herüber und geben einem die Hand. Dann setzen sie sich in die erste Bankreihe. „Trotz dem alten Drachen, trotz dem Todesdrachen, trotz der Furcht dazu“, singen sie. „Irgendwie finde ich das total gruselig“, sagt einer im grauen T-Shirt, als sie fertig sind. „Es gibt eine bekannte Motette von Bach dazu“, meint Yotin Tiewtrakul. „Die kam im Klassikradio“, sagt der Pullover-Mann. „Ich bin erst bei NDR 3“, sagt der im T-Shirt.

Tiewtrakul leitet den Chor seit einem halben Jahr. Er ist in Thailand geboren, hat in Hamburg Komposition studiert. Er lacht viel und korrigiert wenig. „Es geht darum, dass sie überhaupt Lust haben, sich zu äußern.“ Die Männer des Gefängnischors halten eine Melodie, sie füllen den großen Raum mit ihren Stimmen, aber sie sind nicht der Thomaner-Chor. Tiewtrakul nimmt man ab, dass er Freude daran hat, mit ihnen zu singen. Auch wenn sie in letzter Zeit während der Probe „viel geschnackt“ haben, wie er sagt und er nicht der Mann ist, der dann wie in der Schule jemanden dazwischensetzt.

„Für mich ist ,Jesu meine Freude‘ ein gutes protestantisches Lied“, sagt er jetzt zu dem Mann im grauen T-Shirt. „Fragen Sie mal, wer hier ein guter Protestant ist“, meint der Mann im Pullover. „Ich“, sagt der, dem es graute. Später wird der Mann im Pullover erzählen, dass er als Student im Chor gesungen hat, er wird einen fragen, warum man gekommen sei und was man hier erfahren wolle, er wird Tiewtrakul, der alle siezt, duzen und ihn korrigieren. Er wird sagen, dass die Chorprobe ein Moment sei, wo man nicht angeschrien werde. Später wird jemand ein Fragezeichen hinter dieses Anschreien setzen und so vage wird es bleiben in der Black Box Untersuchungshaftanstalt, die streng genommen eine Zwangsmaßnahme ist und kein Gefängnis, da hier noch niemand verurteilt ist.

Die Schokoladenseite

Es ist ein Ort, an dem man sehr grundlegend seine Freiheit verliert und vermutlich ist es für die am schwierigsten, die gewohnt sind, viel zu entscheiden. Es ist ein Ort, an dem man unter Beobachtung steht und wer von außen als Besucher kommt, macht sich nur ein vages Bild davon. Dass man wartend auf der Straße vor dem Gefängnis steht und plötzlich eine Stimme hört, die sagt: „Warum kommen Sie nicht herein, Frau Gräff“ und sich dann die Tür des Besuchereingangs automatisch zur Seite schiebt – das ist die Schokoladenseite.

„Halt an, halt an“ singen die Chor-Leute als Nächstes. Es ist schwierig, hier nicht alles in den symbolischen Hals zu bekommen. „Wo läufst du hin“, singen sie weiter. „Der Himmel ist in dir. Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für.“ „Fehlst im Sinne von ’verpassen’“, erklärt Yotin Tiewtrakul. Einer der Männer übersetzt leise für einen anderen ins Spanische. Sie lachen immer mal wieder zwischendrin, wären es nicht große, kräftige Männer, würde man sagen, dass sie kichern.

Es hat etwas von einer Chorprobe in der Schule, aber Tiewtrakul trägt an seiner Hose angeklemmt ein schwarzes Plastikteil, das ihm die Vollzugsbeamten an der Pforte aushändigen. „Ich kann damit Alarm auslösen, wenn etwas passieren sollte“, sagt er, aber dieses Etwas scheint ihn nicht zu beschäftigen.

Die Chorleute hätten gern Lieder, die mehr mit ihrer Situation zu tun hätten, das haben zwei von ihnen zu Tiewtrakul gesagt, als er sie fragte, was sie gerne singen würden. Eigentlich müssten sie einen Workshop dazu machen, meint er. Es gab sogar schon zwei Männer im Chor, die Lieder komponiert haben. Der eine konnte keine Noten aufschreiben, er hat Tiewtrakul die Noten vorgesungen, der sie dann für ihn aufgeschrieben hat. „Es waren wirklich gelungene Lieder“, sagt Tiewtrakul, er sagt es voller Anerkennung. Der zweite hat seine Lieder dem Chor sogar vorgesungen, Tiewtrakul hatte den Eindruck, dass sie tatsächlich beeindruckt waren.

Wahrscheinlich macht es gar keinen so großen Unterschied im Wagnis des sich Auslieferns, ob man es vor 13-jährigen Mitschülern oder Mithäftlingen tut. Ein Häftling kam einmal mit seiner Gitarre zur Probe und hörte plötzlich ohne Erklärung mit dem Spielen auf. „Ich hatte Schiss, zu heulen“, sagte er hinterher zu Yotin Tiewtrakul.

I‘ll stand before the Lord of song, With nothing on my tongue but Hallelujah“, singen die Chorleute auf dem Podest neben dem Flügel.

Sie klatschen nicht

Tiewtrakul hat sie darum gebeten, sich am Sonntag zu Beginn zu ihm nach vorne zu stellen und hinterher wird er sagen, dass sie vielleicht deshalb etwas verhalten waren. Man weiß nie, wie der Gemeinde die Musik in der Kirche gefällt, wie auch, da sie nicht klatschen, auch die Untersuchungshaft-Gemeinde klatscht nicht. Sie macht aber auch keinen Lärm, fast keinen, aber auch das sagt nicht viel, weil Störer irgendwann die Besuchsgenehmigung verlieren. „Herr Yetiz*“, sagt die Pastorin während der Predigt, „Sie haben zwei Anträge gestellt und ich erwarte, dass Sie sich entsprechend verhalten.“

„Weihnachten bebt der Raum“, hat einer der Chorsänger erzählt, „wenn hier ’Stille Nacht‘ gesungen wird, alle singen das, auch die Muslime.“ Heute bebt der Raum nicht, aber der Chor stemmt die Lieder stellvertretend für alle und man denkt an Matthäus und die zwei oder drei, die in Jesu Namen versammelt sind, aber das würde der Chor vermutlich von sich weisen, weil zu pathetisch.

Nach der Probe gibt es Tee, Kaffee und Kekse. Luxus in einer Haftanstalt. So wie der große Raum ein Luxus ist und die Gesprächszeit mit den anderen. Das ist bei den Chorproben so, das ist im Gottesdienst so. Rund 80 Leute kommen am Sonntag. „Es gibt ein paar, die die Kirche komplett ablehnen, aber eigentlich hat sie einen hohen Stellenwert“, sagt der Mann, der „Jesu, meine Freude“ nicht mag. Der Mann im Pullover will ihm widersprechen, tut es dann doch nicht. Dafür sagt die Pastorin, dass die Kirchenleute als die Guten gelten in der JVA, dass man in Betracht ziehen müsse, dass der Gottesdienst auch eine Stunde mehr Aufschlusszeit bedeute. „Wir sind user-friendly“, sagt Tiewtrakul.

Er sagt auch, dass es hier ein Stück Normalität bedeutete, zum Gottesdienst zu gehen. Man könnte es lustig finden, dass damit die Zeit stehen geblieben ist in der JVA, dass hier der Gottesdienstbesuch Zeichen von Dazugehören ist, wo er draußen exotisch geworden ist.

Der Mann im grauen T-Shirt möchte nicht den Eindruck stehen lassen, dass der Glaube bei den Keksen endet. „Man weiß nicht, ob sie nicht drinnen beten“, meint er. Drinnen in den Zellen.

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