Simone Meiers Roman „Kuss“: Die dunklen Ecken der Herzen

Flucht- und Heilsfantasie im Vorstadthäuschen: In ihrem zweiten Roman, „Kuss“, spielt die Autorin Simone Meier die Netzwerke des Begehrens durch.

Autorin Simone Meier lächelt in die Kamera

„Kuss“ – In diesem Roman arbeitet die Autorin Simone Meier starke literarische Motive heraus Foto: André Wunstorf

Teo steht auf Valerie, Valerie vielleicht ein bisschen auf Yann, Yann auf Valerie, aber eben auch auf seine Freundin Gerda, die wiederum mit Alex … Ach, es ist ­kompliziert! Dabei könnte die Geschichte für Yann und Gerda so einfach sein, denn endlich sind die Thirtysomethings angekommen im Vorstadthäuschen. Gerda arbeitet schon seit geraumer Zeit nicht mehr in ihrem Job in der Werbeagentur. Stattdessen hat sie ja nun ihr neues Herzensprojekt gefunden: das Haus, das sich unter ihren Händen in ein Heim verwandelt. Yann, der Politologe, findet das eigentlich gut. Durchaus kann er sich vorstellen, in den Wänden des Häuschens eines Tages an das Bett seiner zukünftigen Tochter zu treten und sie vor allen finsteren Übeln zu bewahren. Finster und etwas übel wirkt auch die Nachbarin Valerie auf Gerda. Valerie ist Journalistin um die Fünfzig und lebt allein im Haus der verstorbenen Großmutter. All die Erinnerungen, die sich im Haus verbergen, sie sind ihr eigentlich zu viel.

So viel zur Exposition dieses Romans der Schweizer Autorin Simone Meier, die unter anderem für ihre wunderbaren Kolumnen auf watson.de bekannt ist. Sie hat mit „Kuss“ ihren zweiten Roman vorgelegt. Neben der Vorliebe für kurze, knackige Titel verbindet ihn mit dem Vorgänger „Fleisch“ die Lust am exzessiven Durchdeklinieren von Beziehungsklischees – die bekanntermaßen oft zutreffender sind, als wir uns gern eingestehen.

Jedenfalls geht es in beiden Romane um Kabale und Liebe, um Beziehungsgeflechte und Netzwerke des Liebens. Oder besser: des Begehrens. In „Kuss“ werden sie überzeugend durchgespielt: Der allwissende Erzähler (die Erzählerin?) taucht mal in das eine, mal in das andere Bewusstsein. Immerzu kreisen die Fantasien und Träume der Pro­ta­gonisten um den blinden Fleck, den das Begehren fokussiert. Objet petit a, das wissen wir von Jacques Lacan, kann natürlich nie erreicht werden. Und bekommen wir doch einmal, was wir wollen, gleitet das Begehren sogleich weiter zu einem anderen Ziel. Nicht nur das Begehren verschiebt sich, auffallend oft müssen sich die Protagonisten mit Homo- und Bisexualität auseinandersetzen, die die Möglichkeiten des Begehrens vervielfältigen.

Haus und sexuelle Gratifikation

In diesem Roman arbeitet die Autorin starke literarische Motive heraus. Da ist natürlich der Kuss der Begehrenden, der immer etwas verhuscht und unsicher ist. Da ist die Tapete in Gerdas Haus, unter der Seltsames zum Vorschein kommt: Schicht um Schicht alten Lebens, wie Haut. Schließlich ein Aderngeflecht in der Wand, das an das an den Knöcheln der alternden Valerie ­erinnert.

Vieles von dem, was „Kuss“ durchexerziert, wäre aus der Feder eines mittelalten weißen Mannes hochproblematisch: die blutjunge Frau, die plötzlich auftaucht, um Yanns sexuelles Begehren zu befriedigen, die Flucht- und Heilsfantasie, die Gerda mit dem Vorstadthäuschen verbindet, dieses Emma-Bovary-Moment. „Er gab ihr Haus und Geld, sie gab ihm Heim und sexuelle Gratifikation.“ Der bekannte Tauschhandel eben. Dann die Einsicht, dass das Herz der jungen Frau mehr begehren könnte als einen passablen Job. Und die Überforderung der Männer zwischen dem Begehren der Frauen und dem eigenen. Ganz neu ist das nicht.

Simone Meier: „Kuss“. Kein und Aber, Zürich 2019, 254 Seiten, 22 Euro.

Meier lässt man es durchgehen, und es führt auch zu einem wesentlichen Punkt des Textes: „Der Nestbautrieb junger Frauen? Ihre furiose Zukunftsangst? Die Unsicherheit? Macht uns Männer müde.“

Das sagt Valeries Lover Teo, das könnte aber ebenso von Yann geäußert werden. Die Thirtysomething-Frau als Albtraum des Mannes, weil sie etwas von ihm begehrt, was er eventuell nicht zu geben bereit ist. Valerie kann darüber lächeln, ist über den Punkt längst hinaus, sie hat keine Erwartungen an die Männer, die kommen und gehen dürfen.

Immer mal wieder taucht die Klassen­frage auf. Alex ist wohlhabend, Yann kommt aus dem gehobenen Mittelstand, Gerda aber wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre gebildete Mutter, Übersetzerin, verdiente als Kreativarbeiterin nicht viel Geld. Nichts da mit distinguiertem Geschmack, manchmal gruselt es Yann vor Gerdas Einfachheit, die sich im Kauf von Mandarinen, die, oh Graus, kein Bioprodukt sind, manifestiert.

Vermeintlich offenbart sich Gerdas Einfachheit auch in ihrem Namen, der auf das Mädchen im Märchen „Die Schneekönigin“ verweist, das dem Roman zwei wichtige Motive borgt: den Spiegel und das Herz. All das, die polyamourösen Verwicklungen und die durchdeklinierten Klischees gehen nur auf, weil der Text in einem sehr lakonischen Tonfall daherkommt.

Man hätte das Motiv der Schichtungen, die das Begehren verhüllen, bis es plötzlich aufbricht, noch weitertreiben können. Sehr plötzlich, gewaltvoll, bricht der Roman ab. Vielleicht aber tut er gut daran, nicht alle dunklen Ecken des Herzens auszuleuchten.

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