Silvestermüll in Neukölln: Der Duft des neues Jahres
Noch immer ist der Silvester-Müll in Nord-Neukölln nicht aufgeräumt. Der Gehweg ist matschig und stinkt. Oder ist das der Duft des Lebens?
„Freundlichkeit ist der Duft des Lebens“, whatsappte eine Freundin gestern, und ich musste tief seufzen. Denn mein Leben im Jahr 2020 stinkt.
Ich wohne in dieser teuren, weil fame gewordenen Ecke von Neukölln – und wate seit Silvester durch Müll. Die Reste des Feuerwerks, das hier – aller angeblichen Gentrifizierung zum Trotz – um 18 Uhr beginnt (Kinder mit Vätern), bis 23 Uhr an Lautstärke gewinnt (Jugendliche), bis 1 Uhr infernalische Ausmaße annimmt (alle) und gegen 3 Uhr abebbt, liegen bis jetzt auf der Straße.
Aus den bunten Verpackungen und Pappbatterien ist mit den Regenfällen der letzten Tage ein glitschig-brauner Brei geworden, der auf Bürgersteig und Straße klebt, platt gefahren und platt gelaufen von Autos und Fußgänger*innen. Die Tüten und Stiele der Raketen hat der Regen in den Rinnstein gespült. Und keine Straßenreinigung zu sehen, nirgends.
Im Gegenteil. Seit Neujahr haben Nachbar*innen – wohl im Vertrauen auf den zu erwartenden BSR-Einsatz – noch Haus- und Sperrmüll dazugestellt. Kaputte Bürostühle, zerlegte Möbel, ein alter Kühlschrank und eine Spüle stehen zwischen aufgeplatzten Müllsäcken am Gehwegrand. Im Gestrüpp um die braunschwarzen, winterlich blattlosen Straßenbaumgerippe hängen Fahrradreste, Kinderwagengestelle und Kleidungsstücke – ein Bild des Grauens und der grauen Realität in diesem Bezirk. Und es stinkt.
Gentrifizierung ist ein Gerücht
Und ich frage mich, während ich dort durcheile: Warum machen Leute so etwas? Ich kann nicht glauben, dass die Antwort lautet: Sie finden das schön. Sie treten morgens gern, gar mit ihren Kindern – Nase auf Müllhöhe –, vor die Tür und waten durch Dreck? Das will einfach niemand, Punkt.
Meine Erklärung: Gentrifizierung ist ein Gerücht. Klar sind hier in ein paar neu ausgebaute Dachgeschosswohnungen ein paar neue, reiche Mieter oder gar Eigentümer eingezogen (mal sehen, wie lange die es hier aushalten). Ansonsten gilt, was der Chef einer großen Immobiliengesellschaft kürzlich ansprach: Die „Leistungsfähigkeit der Mieter“ ist der Grund!
Die können sich nämlich meist gerade noch die massiv erhöhten Mieten leisten, aber kein Auto mehr, um Sperrmüll zur BSR zu fahren, und auch nicht die Kosten für dessen Abholung. Denn die abenteuerlich teuer gewordenen Wohnungen teilen sich Studenten oder Berufsanfänger, die dafür die Hälfte ihres Einkommens bezahlen, Einwandererfamilien, die dann eben mit neun Personen aus drei Generationen auf 80 Quadratmetern wohnen, oder Leute, die, um noch wohnen zu können, auf Luxus wie Urlaub verzichten müssen.
Ja, ich weiß, was Sie jetzt fragen, geschätzte Leser*innen: Warum verballern die ihr Geld dann mit Feuerwerk? Eine kluge Antwort darauf hatte ein Experte, den Kollege Erik Peter kürzlich interviewt hat: Felix Rausch, Pyrotechniker und Soziologe, sieht die Knallerei als „Aufbäumen gegen das Rationale“, als Ventil für die Zwänge des Alltags. Und ich muss sagen: Ich finde es – trotz meines Ärgers über den Müll und dessen Geruch (der Duft des Lebens?) – dann doch ganz gut, wenn sich da noch was bäumt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind