Sexueller Kindesmissbrauch: „Die Folgen, wenn wir nicht handeln, wären deutlich teurer“
Die unabhängige Bundesbeauftragte Kerstin Claus fordert mehr gesetzliche Regelungen, um Kinder im Internet vor sexuellem Missbrauch zu schützen.

taz: Frau Claus, Sie nennen den digitalen Raum für Kinder und Jugendliche ein „explosives Risiko“? Wieso?
Kerstin Claus: Weil das Risiko, im Netz sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein, für Kinder und Jugendliche noch nie so groß war. Alleine in Deutschland gibt ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen zwischen 8 und 17 Jahren an, bereits Opfer von Cybergrooming geworden zu sein. Täter haben im Netz potenziell 24/7 Zugriff auf Kinder und Jugendliche.
Die Person
Kerstin Claus, 55, hat als Journalistin unter anderem für das ZDF und als Systemische Organisationsberaterin gearbeitet. Seit 2010 ist sie Mitglied bei den Grünen, ab 2015 war sie Mitglied im Betroffenenrat des damaligen Missbrauchsbeauftragten. Im März 2022 wurde sie selbst zur Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) berufen. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
Das Amt
Das Amt der oder des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wurde nach dem sogenannten Missbrauchsskandal 2010 geschaffen. Die Missbrauchsbeauftragte ist Ansprechpartnerin für Betroffene, Angehörige, Expert*innen und alle, die sich gegen sexuelle Gewalt an Kindern engagieren. Wesentliche Aufgaben sind Information, Sensibilisierung und Aufklärung, der Schutz von Kindern und Jugendlichen sowie die Unterstützung von heute erwachsenen Betroffenen. Im Juni wurde das UBSKM-Gesetz verabschiedet, das die Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen stärken soll.
taz: Wird genug dagegen getan?
Claus: Definitiv Nein. Mit Blick auf sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im digitalen Raum stehen wir vor einem multiperspektivischen Versagen von Gesellschaft und Politik. Wir schützen junge Menschen viel zu wenig und lassen sie mit den Folgen viel zu sehr allein. Es braucht deutlich mehr Verpflichtungen für die Anbieter, mehr Anlaufstellen und Beratungsangebote, an die sich Eltern, Fachkräfte und Kinder und Jugendliche wenden können, und mehr Medienbildung und digitale Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen, um die Gefahren richtig einschätzen zu können.
taz: Was genau sind Gefahren im digitalen Raum?
Claus: Besonders hoch ist das Risiko auf den vielen Online-Plattformen, die Chatfunktionen anbieten. Denn hierüber haben Pädokriminelle direkten Zugriff auf Kinder und Jugendliche. Diese Chatfunktionen sind vollkommen ungeschützte Räume. Kinder und Jugendliche sind dort konfrontiert mit Millionen anderer User, die systematisch auf das Kind zugreifen können. Das ist ideal für Täter und Täterinnen mit sexuellen Absichten, weil sie sich als Personen ausgeben können, die sie gar nicht sind.
taz: Wie muss man sich das vorstellen?
Claus: Täter können im Netz einen netten, witzigen Kontakt aufbauen, so etwas wie eine digitale Freundschaft entwickeln und das Kind dann in Fragen zu seiner Person verwickeln: „Hey, wie siehst du denn wirklich aus?“ oder „Lass uns auf einen privaten Kanal wie WhatsApp wechseln!“. Da junge Menschen daran gewöhnt sind, digitale Freundschaften zu schließen, geschieht das schnell. Das birgt viele Risiken. Kinder und Jugendliche können zum Beispiel mit Nacktbildern, die sie verschickt haben, erpresst werden, sogenannte Sextortion. Sie können auch dazu gebracht werden, sich mit dem Täter zu einem „echten“ Treffen zu verabreden.
taz: Viele Betroffene melden den Missbrauch nicht, beispielsweise aufgrund von Scham oder Abhängigkeit gegenüber dem Täter. Sie wollen mit einem neuen Forschungszentrum Licht ins Dunkel bringen. Was haben Sie vor?
Claus: Ich bin seit Jahren frustriert, dass wir immer nur das Hellfeld abbilden können, also die angezeigten Fälle. Das Dunkelfeld ist aber ungleich höher. Deswegen haben wir ein Forschungszentrum initiiert, das durch kontinuierliche Befragungen von Jugendlichen die aktuelle Realität von sexueller Gewalt gegen junge Menschen besser abbilden soll. Nächstes Jahr beginnt die erste Befragungswelle. Hierfür gehen wir in jedem Bundesland in die 9. Klassen und befragen dort junge Menschen nach den Gewalterfahrungen, die sie gemacht haben. Wir fokussieren nicht allein auf sexualisierte Gewalt, sondern erfragen alle Gewaltformen in der analogen Welt und auch im digitalen Raum. Die Zahlen liegen voraussichtlich Ende 2027 vor.
taz: Was erwarten Sie?
Claus: Ich gehe davon aus, dass ein Großteil der Jugendlichen digitale sexuelle Gewalt erlebt. Gleichzeitig nimmt die sexuelle Gewalt gerade im sozialen Nahbereich nicht ab. Sie ist und bleibt ein Grundrisiko des Aufwachsens. Ich bin sicher, die neuen Zahlen werden die Politik deutlich stärker unter Druck setzen, evidenzbasiert zu handeln und die nötigen Ressourcen für eine bessere Prävention und Begleitung von Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Zahlen sind ein scharfes politisches Schwert.
taz: Zahlen sind nicht immer ein scharfes Schwert. Fast jeden Tag wird eine Frau oder ein Mädchen getötet und es wird noch sehr wenig dagegen getan. Wieso glauben Sie, dass ihre Untersuchung wirklich Veränderung anstoßen wird?
Claus: Seit über 10 Jahren wird kritisiert, dass es in Deutschland keine wissenschaftlich verlässlichen Zahlen zum Ausmaß sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen gibt. Diese brisante Wissenslücke schließen wir jetzt. Weil Zahlen sichtbar machen, was vorher vielleicht nur vermutet und befürchtet wurde. Damit kann sich Politik nicht mehr wegducken. Außerdem werden wir die Befragung regelmäßig wiederholen, denn gerade im Digitalen verändern sich Phänomene und damit Risiken so unglaublich schnell. Neue Risiken werden so schneller erkannt und Politik kann zielgerichtet handeln. Auch Hilfe- und Beratungsangebote können so auf aktuelle Herausforderungen gezielt reagieren. Die Folgen, wenn wir nicht handeln, wären deutlich teurer.
taz: Welche Reformen wären ihrer Meinung nach die wichtigsten?
Claus: Kinder- und Jugendschutz muss Priorität haben vor den wirtschaftlichen Interessen von Plattformbetreibern. Es ist ein Trugschluss, dass immer wieder davon ausgegangen wird, Medienpolitik allein könne das Problem lösen. Kein Kind und übrigens auch kein Jugendlicher kann sich heute im Netz angemessen schützen, das muss uns klar sein. Deswegen brauchen wir eine wirksame Regulierung der Plattformbetreiber auf europäischer Ebene. Wir brauchen technologische Lösungen ebenso wie sichere Räume für junge Menschen im Netz. Die Möglichkeiten, hohe Strafzahlungen gegen Plattformbetreiber auszusprechen, müssen seitens der EU auch konsequent umgesetzt werden, um digitalen Kinder- und Jugendschutz durchzusetzen. Ich glaube auch, dass es fehlende politische Strukturen sind, weswegen diese Priorisierung bisher nicht gelungen ist. Datenschutz und auch Netzpolitik sind hier europäisch viel besser aufgestellt. Mit meinem Amt aber bin ich europäisch allein auf weiter Flur. Das muss sich ändern, damit wir die Rechte von Kindern künftig anders verhandeln, politisch aber auch gesellschaftlich.
taz: Eine mögliche Grundlage dafür wären Kinderrechte im Grundgesetz. Was würde das verändern?
Claus: Kinderrechte beinhalten nicht nur das Recht, geschützt zu werden. Sie beinhalten auch ein Recht auf Gestaltung der eigenen Lebenswelt, auf demokratische Partizipation. Schauen Sie sich die Rentendebatte an, wie viel gerade zulasten der jungen Generation debattiert wird. Gäbe es die Kinderrechte im Grundgesetz, wäre das ein wenig wie beim Klimaschutz, der verfassungsrechtlich verankert ist und deswegen bei allen politischen Entscheidungen mitbedacht werden muss. Kinderrechte im Grundgesetz würden die Sichtbarkeit der Belange von Kindern und ihre Mitsprache massiv stärken. Das stärkt dann auch die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Im Kinderschutz.
taz: Wieso ist es wichtig, gerade jetzt solche Reformen anzugehen?
Claus: Wir sind uns der immensen Folgen von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – und auch der gesellschaftlichen Kosten, die das bedeutet – überhaupt nicht bewusst. Es steht außer Frage, dass die Politik jetzt handeln muss. Es braucht gesetzliche Regelungen, gerade für die digitale Welt. Die Anbieter müssen unter Druck gesetzt werden, die bestehenden gesetzlichen Verpflichtungen aus dem Digital Services Act umzusetzen. Sie sollten zudem in einen Wettbewerb der guten Ideen bezogen auf Kinder- und Jugendschutz eintreten. Außerdem braucht es die Vermittlung von Digitalkompetenzen für Kinder und Jugendliche von der Kita an, nicht bezogen auf technische Geräte, sondern im Umgang mit den Inhalten, auf die sie im Netz stoßen. Aber auch wir Älteren müssen dazulernen. Es braucht mehr Informations- und Fortbildungsangebote auch für Eltern und Fachkräfte, damit sie junge Menschen auch digital besser begleiten und schützen können.
taz: Sie fordern, dass die Anbieter von Online-Diensten und Endgeräten mehr Verantwortung übernehmen. Wie soll das funktionieren?
Claus: Ich möchte, dass Anbieter von Spielen und Endgeräten aufgefordert werden, auch eine Kinder- und Jugendschutzvariante ihrer Angebote auf den Markt zu bringen. Wir sollten in ein Wechselspiel gehen: Politik muss Regelungen vorgeben, was Kinder- und Jugendschutz leisten muss, und dann ist es Aufgabe der Anbieter, über konkrete Maßnahmen sicherzustellen, dass zum Beispiel künftig verhindert wird, dass Telefonnummern auf Online-Plattformen im Chat ausgetauscht werden können. Es gibt viele gute Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche im Netz besser zu schützen, sie müssen nur durchgesetzt werden, auch gegen massive wirtschaftliche Interessen.
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