Sexuelle Vielfalt im Unterricht: Herr Stängle wittert Unfreiheit
In Baden-Württemberg soll Wissen über „sexuelle Vielfalt“ vermittelt werden. Ein Lehrer führt die Protestbewegung dagegen an und erntet Zuspruch.
![](https://taz.de/picture/129246/14/CSDStuttgart2013.jpg)
STUTTGART taz | „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ sollen Kinder in Baden-Württemberg künftig in der Schule vermittelt bekommen. So steht es im Bildungsplan 2015, der momentan entwickelt wird. Gegen das Vorhaben ziehen konservative Kräfte ins Feld.
Wortführer ist der Realschullehrer Gabriel Stängle aus dem Schwarzwald. Er fürchtet, dass Schule zum „Aktionsfeld von LSBTTIQ-Vertretern“ wird, und hat eine Onlinepetition gegen den Bildungsplan gestartet. „LSBTTIQ“ steht für „lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queer“.
40.000 Personen haben Stängles Petition bereits unterzeichnet. Das Kultusministerium hält die Erklärung für diskriminierend, und die Lehrergewerkschaft GEW bezeichnet die Befürworter als „Fundamentalisten“.
Mit dem Leitprinzip „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ im Bildungsplan geht das Land Baden-Württemberg einen eigenen Weg. In den Bildungsstandards der länderübergreifenden Kultusministerkonferenz war dies noch kein Thema. Man wolle Kinder darin bestärken, sich selbst und ihr Gegenüber mit Wertschätzung zu betrachten, heißt es aus dem Kultusministerium.
Stängle erhält Zuspruch aus der rechten Szene
In einer ersten Fassung der Petition war von einer „Umerziehung“ der Schüler die Rede, von einem „Nein zu LSBTTIQ-Indoktrinierungs- und -Missionierungsversuchen“ sowie davon, dass Lehrer von LSBTTIQ-Aktivisten „in politische Haft“ genommen würden. Weil der Text wegen diskriminierender Passagen nicht den Bedingungen des Portals openpetition.de entsprach, musste er entschärft werden.
Gabriel Stängle ist im Realschullehrerverband Baden-Württemberg für das Referat Erziehung, Bildung, Schulpolitik zuständig. Privat ist der 41-Jährige in einer christlichen Gemeinschaft aktiv, die bibelorientiert lebt. Seine Petition wurde von der rechtspopulistischen Website PI-News aufgegriffen und unterstützt. Auch aus evangelikalen Kreisen erhält sie Unterstützung.
Aus Stängles Sicht gibt es im Bildungsplan 2015 ein Definitionsproblem. „Akzeptanz bedeutet, dass ich etwas gutheiße, billige und meine Haltung so ändere, wie es das Gegenüber wünscht“, schreibt er. Toleranz bedeute, „dass ich die Menschen mit unterschiedlichen Haltungen, Wertevorstellungen, etc. respektiere, aber ich meine Haltung beibehalten darf.“ Weiter schreibt er: „Ich sehe begründete Gefahr, dass die Akzeptanzforderung der Leitprinzipien den Bereich der Freiheit hin zur Unfreiheit überschreitet.“
Die Petition im Internet hat zunächst keine Auswirkung. Sie wurde bislang nicht beim Petitionsausschuss des Landtags eingereicht. Gegen Stängle liegt inzwischen eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Regierungspräsidium Karlsruhe vor.
Ängste vor LSBTTIQ-Lebensweisen
Neben inhaltlicher Kritik erhebt Gabriel Stängle den Vorwurf, das Leitprinzip des Bildungsplans „Sexuelle Vielfalt“ sei am begleitenden Beirat vorbei entschieden worden. Das Gremium sei bis zur Übergabe eines Arbeitspapiers im November nicht über diese Schwerpunktsetzung informiert gewesen und habe deshalb keine Möglichkeit gehabt zu reagieren.
Die grüne Landtagsfraktion hatte bereits im Mai ein befürwortendes Positionspapier zum Thema veröffentlicht. Um sexuelle Vielfalt solle es künftig eher im Ethik-, Sozialkunde- oder Sprachenunterricht als in naturwissenschaftlichen Fächern gehen, heißt es darin. Außerdem wird eine Studie der Humboldt-Universität Berlin zur Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen vom August 2012 erwähnt. Darin heißt es, je öfter in verschiedenen Jahrgängen und Fächern Lesbisch- und Schwulsein thematisiert werde, desto positiver sei die Einstellung der Schüler dazu.
Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg schreibt dazu: „Die Petition und vor allem die diesbezüglichen Kommentare machen sichtbar, in welchem Ausmaß homo- und transphobe Vorstellungen und Ängste vor LSBTTIQ-Lebensweisen noch immer in Teilen der Bevölkerung verbreitet sind.“
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