Sexuelle Gewalt auf dem Land: 40 Kilometer bis zur nächsten Hilfe
Missbrauch gibt es auch auf dem Dorf. Doch Hilfe ist meist weit weg, weil es zu wenig Beratungsstellen gibt und die Wege dorthin weit sind.
Tamara Luding war etwa 9 oder 10 Jahre alt, als der Stiefbruder sich das erste Mal an ihr verging. „Ich dachte, das ist normal unter Geschwistern“, sagt sie. Heute ist Luding 42, eine lebenslustige Frau mit einem markanten Gesicht, rauchiger Stimme und vielen Tattoos auf den Armen. Heute ist sie Mitglied sowohl im Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung als auch im Präventionsrat Niedersachsen. Heute spricht sie offen über die sexuelle Gewalt, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hat, damals, als Kind und als Jugendliche, konnte sie es nicht. Denn Ludings Familie lebte in einem kleinen Dorf irgendwo im Süden der Republik. „Ich kannte niemanden, der mir helfen konnte, eine Beratungsstelle gab es nicht, schon gar nicht in meiner Nähe“, sagt Luding.
Das nennt man Versorgungslücke – und die gibt es bis heute. Überall auf dem Land fehlen Beratungs- und Hilfsangebote, mangelt es an ausreichendem Fachpersonal. Mitunter ist der Weg bis zur nächsten Beratungsstelle unendlich weit. Im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, dem agrarisch geprägten, strukturschwachen Wendland, gibt es seit 25 Jahren eine einzige Beratungsstelle: „Violetta“ in Dannenberg im Nordwesten der Region. In die Beratungsstelle kommen jedes Jahr etwa 150 Frauen und Mädchen, meist aus der unmittelbaren Nähe. Wer in Schnega im Süden des Landkreises wohnt, muss etwa 40 Kilometer bis nach Dannenberg fahren. Klingt wenig, ist aber – wie überall auf dem Land – ein weiter Weg. Es gibt keine Zugverbindung, keine direkte Busverbindung, ohne Auto geht nichts in der Region. Für ein Kind oder einen Jugendlichen eine schier unlösbare Situation.
„Bei sexuellem Missbrauch von Kindern ist das besonders dramatisch“, sagt Luding. Kinder können sich kaum wehren, sie sind auf das Vertrauen, die Nähe und vor allem die Hilfe Erwachsener angewiesen. All das ist durch die Versorgungslücke nicht gewährleistet. Das will SPD-Familienministerin Franziska Giffey jetzt ändern. Bis 2021 soll ein bundesweites Programm mit dem Titel „Wir vor Ort gegen sexuelle Gewalt“ Versorgungslücken auf dem Land schließen, zumindest ansatzweise. Drei Beratungsstellen – in Dannenberg, in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern und in Ravensburg in Baden-Württemberg – werden ihre Hilfsangebote ausweiten, sie bekommen mehr Mitarbeiterinnen und verstärken ihre Öffentlichkeitsarbeit.
In jeder Schulklasse zwei Betroffene
Am Donnerstag wurde das Programm mit 3,3, Millionen Euro geförderte Modellprojekt in Dannenberg vorgestellt. „Missbrauch geschieht überall“, sagte Bundesministerin Giffey: „Auch auf dem Land.“ 11.547 Fälle sexueller Gewalt an Kindern hat die Polizei 2017 bundesweit verzeichnet, in Niedersachsen registrierte die Polizei allein im ersten Halbjahr 2018 etwa 730 Fälle. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge sitzen in jeder Schulklasse in Deutschland etwa zwei Kinder, die wenigstens einmal sexuelle Gewalt erlebt haben. In Lüchow-Dannenberg gibt es 224 Klassen in 20 Schulen.
Das Problem mit der Immobilität im Wendland kennt Beate Krauth, Mitarbeiterin bei Violetta, zur Genüge. „Es gibt immer ein logistisches Problem“, sagt die Traumapädagogin und Sozialarbeiterin. „Vor allem dann, wenn die Mädchen und Frauen anonym bleiben wollen.“ Anonym bleiben sie nicht, wenn sie jemanden bitten müssen, sie mit dem Auto nach Dannenberg zu fahren: Was willst du denn da?
Vor ein paar Jahren beschlossen Krauth und ihre drei Kolleginnen daher, in Clenze im Süden des Landkreises eine Zweigstelle aufzumachen: ein Raum in einem Kulturprojekt, an einem Tag in der Woche für ein paar Stunden geöffnet. „Das machte aber nur wenig Sinn“, sagt Krauth heute: „Die Betroffenen mussten zu einer bestimmten Zeit dorthin kommen, immer dann, jemand jemand von uns vor Ort war. Aber oft passt das nicht, weil die Hilfesuchenden zu Hause sein mussten oder andere Termine hatten.“ Seitdem bieten die Violetta-Mitarbeiterinnen eine sogenannte mobile Beratung an: Sie fahren in die einzelnen Dörfer, in Schulen, Kitas, zu Sportvereinen.
Das lindert ein wenig das Problem der weiten Wege, das ändert nichts daran, dass die Anonymität der Opfer nicht in jedem Fall gewahrt bleiben kann. Tamara Luding hat das als missbrauchtes Kind hautnah erlebt. Sie sagt: „Das Dorf hat einen Vorteil: Jeder kennt jeden. Und es hat einen Nachteil: Jeder kennt jeden.“ Wie oft hat sie Sätze wie diese gehört: „Missbrauch? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, das gibt bei uns nicht. Wir kennen uns hier doch alle so gut.“
„Ach, die kommt doch aus dieser asozialen Familie“
Violetta-Beraterin Krauth erinnert sich daran, dass vor vielen Jahren die Samtgemeinde Gartow Spenden für die Beratungsstelle mit dem Argument abgelehnt hat, sexuelle Gewalt existiere dort nicht. Ebenso rasch wird weggeschaut, vor allem bei Familien, die ohnehin schon stigmatisiert sind. „Das geht so schnell wie ein Flügelschlag“, sagt Luding: „Da heißt es dann: Ach, die kommt doch aus der Familie, die schon immer asozial war.“ Zack, der Stempel ist aufgedrückt und Verantwortliche schauen weg.
Wie kann das Modellprojekt das ändern? Violetta will unter anderem eine Onlineberatung aufbauen, als schnelle Hilfe ohne Fahrtweg. Außerdem werden die Türen der hellen und großzügigen Beratungsstelle künftig auch für Jungen und Männer offen stehen. Ein Novum, denn mit Männern wird eher Täterschaft assoziiert und häufig vergessen, dass Männer und Jungen ebenso Opfer sexueller und anderer körperlicher und seelischer Gewalt sein können.
Tamara Luding hätte sich als Teenager gewünscht, dass ihr jemand zuhört und hilft. Sie hat selbst eine Ausbildung zur Traumapädagogin gemacht und hört jetzt anderen zu.
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